Meist trägt das Formatradio die Schuld, dass einem Lieder irgendwann gehörig auf die Fackel gehen. Zu oft gespielt, zu eingängig, zu enervierend, wenn auch manchmal zu Unrecht. Enyas New-Age-Heuler »Orinoco Flow (Sail away)« ist so ein Fall – das Lied mit der repetitiven Melodie platzierte sich 1988 auf Platz 1 in Großbritannien und ist seitdem aus keiner Chart-Show mehr wegzudenken. 2001 feierte die irische Sängerin einen weiteren, wenn auch bitteren Erfolg. Ein Fernsehsender unterlegte die Bilder des 11. Septembers mit »Only Time«. Enyas Song traf mitten ins Herz, auch wenn im Hirn verschämt die rote »Kitsch!«-Warnlampe anging.
Es wäre einfach, ein Buch über Enya zu schreiben, das sie und ihre Musik süffisant belächelt. Das war auch nicht Chilly Gonzales’ Intention, der sich jetzt in einem schmalen Band mit Enya beschäftigt. Der kanadisch-kölsche Pianist setzt sich ernsthaft und unterhaltsam mit ihrer Musik auseinander, ganz so, als säße er im Schlafrock und Pantoffeln am Klavier. Er macht sich Gedanken um den eigenen Musikgeschmack, erkennt an, dass es sich bei »Only Time« eigentlich um ein klassisches Schlaflied handelt, gesungen von der »guten Mutter« Enya, die »will, dass wir wissen, das alles gut wird.« Trost oder Entspannung findet sich eben auch im vermeintlichen Kitsch und in der New-Age-Wattigkeit. Manchmal braucht man etwas, was weder komplex noch cool ist. Gonzales, der Free Jazz liebt, beschreibt es so: »Genau darum geht es in meinem Buch. Diese Idee davon, dass es auf der einen Seite Musik gibt, die gut klingt, wenn man isst oder feiert oder ein Bad nimmt, und auf der anderen Seite eben Musik, der man seine volle Aufmerksamkeit schenken muss.«
Chilly Gonzales »Enya«, KiWi-Musikbibliothek, Köln 2020, 96 Seiten, 10 Euro
Lesung im Rahmen der lit.RUHR am 11. Oktober 2020 auf der Zeche Zollverein