In diesen Tagen ist alles anders. Dinçer Güçyeter sitzt im Zug nach Berlin. Kurz vorher ist er von der Buchmesse aus Leipzig wiedergekommen. Nein, Zeit, um sich so richtig über den Preis dort zu freuen, hätte er noch nicht gehabt. »Ich muss das alles erstmal realisieren.« An diesem Tag ist er aus Nettetal unterwegs. Hier war er als Gastarbeiterkind groß geworden, hier lebt er noch heute. Im vergangenen Jahr hatte er mit »Unser Deutschlandmärchen« einen Roman herausgebracht, der von seiner Familie erzählt, vom Aufwachsen in einem fremden Land und zugleich von einer ganzen Generation, die durch das Anwerbeabkommen aus der Türkei nach Deutschland kamen, sich in der fremden Kultur zurechtfinden mussten. Dafür hatte er eine ungewöhnliche Form entwickelt – aus Briefen, Theaterdialogen und Prosa. Eine Form, um die Sprachlosigkeit einer ganzen Generation wiederzugeben. Und der poetischen Kraft Güçyeters Ausdruck.
Er, der als einziger in seiner Familie des Deutschen mächtig ist und »wie eine Aldi-Tüte« zu sämtlichen Arztterminen und Behördengängen mitgeschleppt wurde, wie er sich erinnert. Er, dessen Welt die Romane Dostojewskijs sind und der als »Schwuchtel« beschimpft wurde, versuchte immer, seine Mutter zu unterstützen. Ihr Schweigen zu brechen über all die Arbeit ohne ein klagendes Wort in diesem neuen Leben. Wie hat sie auf den Preis in Leipzig reagiert? »Direkt nach der Preisverleihung wurde ich direkt von einem Interview zum nächsten gekarrt, bevor ich sie endlich um kurz nach 9 anrufen konnte. Als ich dann wieder zu Hause war, saßen wir zusammen und haben gefeiert und gegessen.«
Nach dem Realschulabschluss hatte Dinçer Güçyeter eine Ausbildung zum Werkzeugmechaniker gemacht, seitdem er acht ist, arbeitete er nebenbei auf dem Feld, in der Kneipe der Eltern oder im Bordell des Onkels, bevor er 2011 den Elif Verlag gründete. Er verlegte Lyrik aus aller Welt, sein Verlag wurde zur Heimat einer migrantischen Community, die sich heute nach und nach auf dem literarischen Markt behauptet. 2022 war er für seinen Band »Mein Prinz, ich bin das Ghetto« mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet worden.
Auch schon vor meinem Roman ging es für den Verlag immer weiter nach oben. Es ist ein Klischee, dass Leute sich nicht für Lyrik interessieren würden und diese nicht verkäuflich sei.
Dinçer Güçyeter
Nicht nur sein Roman, auch seine Lyrik speist sich aus den alltäglichen Geschichten des Arbeitermilieus. Heute noch arbeitet er weiterhin als Gabelstaplerfahrer, um den Verlag und seine literarische Arbeit zu finanzieren. Wird sich das nach dem Preis der Leipziger Buchmesse nun ändern? »Für mich ist diese Arbeit wichtig, nicht nur finanziell, sondern auch, damit ich den Kontakt zu dieser arbeitenden Welt aufrechterhalte. Man muss sich nicht ständig beweisen und trifft interessante Menschen. Lagerarbeiter, LKW-Fahrer – Leute, die rumkommen, Geschichtensammler wie ich auch.«
Dass er seinen Debütroman nicht im eigenen Elif-Verlag, sondern im Berliner mikrotext-Verlag veröffentlichte, hatte auch ökonomische Gründe: »Ich wusste einfach, dass ich all die Arbeit alleine nicht schaffe. Die Verlegerin Nikola Richter und ich kennen uns schon viele Jahre und kommen beide aus der Lyrik. So ist das Buch als Teamwork entstanden.« Die Hektik des Literaturbetriebs kennt er sehr gut: »Bevor bereits alle Bücher des Herbstprogrammes entsprechende Aufmerksamkeit bekommen haben, kommt bereits das Frühlingsprogramm des nächsten Jahres auf den Markt.« Auch hier will er deshalb seinen eigenen Weg gehen – das Frühjahrsprogramm 2024 lässt er ausfallen. »Ich habe auch eine Verantwortung für meine Autor*innen, denen ich die berechtigte Anerkennung für ihre Bücher einräumen will. Ich habe den Elif-Verlag immer als mein drittes Kind bezeichnet und das wird er auch immer bleiben.«
Geboren in einem fremden Land, zu feinsinnig für die Migrationsgesellschaft, zu uneben sein Weg und seine Herkunft für die deutsche Mehrheitsgesellschaft – Dinçer Güçyeter hat sich mit dem Elif-Verlag und seiner Literatur selbst eine Heimat erschaffen, die nun endlich gewürdigt wird. Das deutsche Telefon-Netz gibt langsam den Geist auf, die Funklöcher werden größer. Eine letzte Frage: Wird sich mit dem Preis irgendetwas ändern? »Auch wenn eines Tages der Nobelpreis kommt, ich würde nichts anders machen«, sagt er und lacht. Zu gönnen wäre es ihm.
Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen, Mikrotext Verlag, 216 Seiten, 25 Euro