Der Kinobesuch in Deutschland ist seit seinem Zenit vor etwa 60 Jahren von rund 800 Millionen Eintritten auf rund 121 Millionen im Jahr 2016 zurückgefallen, acht Millionen weniger allein zwischen 2011 und 2016. Das Publikum wird immer älter, die Filmverwertungen wandern aus dem Kino auf Filmfestivals oder ins Internet ab. Das klingt nicht gerade nach großer Zukunft und überlebensfähigem Geschäftsmodell.
Es wäre also an der Zeit, über eine geregelte Musealisierung des Kinos nachzudenken, endlich einen kulturellen Auftrag einzulösen, den Politik für andere Künste freimütig, wahrscheinlich im Interesse eigener Darstellung, von jeher annimmt. In Bau und Sanierung von Philharmonien, Opern- und Schauspielhäusern werden hunderte Millionen investiert. Die öffentlichen Haushalte stellten zuletzt 3,5 Milliarden Euro allein für Theater und Musik zur Verfügung, die Errichtung von Kulturbauten nicht eingerechnet. Jede Großstadt leistet sich ein Museum für zeitgenössische Kunst und ein Theater, auch wenn dies kaum irgendwo ›wirtschaftlich‹ vernünftig ist.
Nicht so für das Kino: In Deutschland gibt es wohlwollend betrachtet gerade einmal drei oder vier Kinematheken, die Filmgeschichte regelmäßig präsentieren, mindestens zwei davon in trostlosem Zustand. Die Kulturpolitik überlässt das Kino dem Markt, auch in NRW. Anderswo, etwa in Schweden, hat man längst verstanden, dass Kino nur zu retten ist, wenn man die kinematografische Praxis (nicht nur Filme) rettet, und Kopierwerke in staatliche Obhut übernimmt. Unlängst wurde mit Mehrheit der Großen Koalition ein Antrag abgelehnt, das Kopierwerk des Bundesarchivs nicht zu schließen.
Man spricht von »Digitalisierung«, wenn es ums sogenannte »Filmerbe« geht. Meine Kollegen in den deutschen Filmmuseen wirken als Erfüllungsgehilfen solcher Politik mit. Niemand aber käme auf die Idee, dass die Sicherung von Handschriften deutscher Dramen und ihre Drucklegung hinreichend wäre, um Theater als Kunstform zu erhalten. Die »Kulturtechnik Kino« besteht aus dem Bildträger Film, der Technik zu dessen Reproduktion sowie dem Ort der Aufführung. Nur so wird Film erlebbar.
Ab 2018 sollten durch Bund, Länder und Filmförderungsanstalt eigentlich bis zu zehn Millionen Euro jährlich zur Sicherung des »Filmerbes« bereitgestellt werden, freilich nur für die Digitalisierung deutscher Kinofilme: ein Geschenk an die nationale Filmwirtschaft. Auf Anfrage teilte die Staatskanzlei NRW im März 2017 mit, das fragliche Konzept sei noch nicht final abgestimmt, es bestehe »aktuell noch Klärungsbedarf«. Ein Jahr später besteht »nach wie vor weiterer Abstimmungsbedarf«.
Man hat es nicht sonderlich eilig, eilig aber damit: Die neue Landesregierung meldete im Januar, die Film- und Medienstiftung NRW erhalte 2018 fast 14,5 Millionen Euro, 2,5 Millionen mehr als im Vorjahr (bei einem Gesamtetat von weit über 30 Millionen Euro), die höchste Landesförderung seit ihrer Gründung. Der Zuwachs geht gänzlich in die Games-, Serien- und Produktionsförderung (für Kino- und Fernsehfilme und internationale Koproduktionen). Die »vereinfachte« bzw. »kulturelle« Filmförderung (Low-Budget-Projekte) geht leer aus, ebenso wie der Etat des Kulturministeriums für Filmkultur (Filmfestivals usw.), seit Jahren klägliche knapp 1,5 Millionen Euro. Filmkultur bleibt in NRW wie anderswo Medien- und Standortpolitik untergeordnet; das ist politisch stabil.
Lars Henrik Gass, geboren 1965 in Kaiserslautern, studierte Literatur- und Theaterwissenschaften sowie Philosophie an der Freien Universität Berlin und promovierte über die französische Schriftstellerin und Filmemacherin Marguerite Duras. Seit 1997 leitet er die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Sein Buch »Film und Kunst nach dem Kino« erscheint im Mai bei Strzelecki Books als Taschenbuch.