Georg Nigl hat ein Herz für Einzelgänger und Sonderlinge, die vom Leben gezeichnet und vom Schicksal strapaziert wurden. Zu exemplarischen Rollen gehören die beiden Büchner-Antihelden Wozzeck und Lenz in den Opern von Alban Berg bzw. Wolfgang Rihm. Und noch ein Nonkonformist: Der Franzose Pascal Dusapin schrieb für ihn die Partie des »Doktor Faustus« nach Christopher Marlowe, dessen letztes Stündlein, dessen »Last Night« einen Abend lang schlägt. Doch dann macht der von der Zeitschrift Opernwelt zum »Sänger des Jahres« gekürte Nigl wieder zeitlich einen Sprung zurück und kommt bei Claudio Monteverdis »Orfeo« an. Als ob es für ihn das Selbstverständlichste ist, kann er vom ungeschönt exzessiven (Rihm-)Ton stilecht ins magisch erlesene Barockfach switchen.
In diesem Spektrum bewegt sich Nigl mit seiner sogar im Sopran-Register nicht bröselig werdenden, substanzreichen und wandlungsfähigen Baritonstimme. Wenn er sich zudem auf der Bühne in die Partien darstellerisch bedingungslos eingibt, kann man ahnen, dass er sich in seinen Anfängen durchaus mit dem Gedanken an eine Schauspiel-Karriere getragen hat.
Schon lange ist er einer der international gefragtesten Stimmschauspieler. Komponisten wie Peter Eötvös, Friedrich Cerha und Georg Friedrich Haas schreiben für den neugierigen Künstler Musiktheaterstücke. Demnächst singt er in Wien den Don Fernando in Beethovens »Fidelio«. Außerdem arbeitet er mit konträren Star-Regisseuren wie Andrea Breth, Robert Wilson und Frank Castorf.
Mit Prominenz hatte der gebürtige Wiener bereits als »Sängerknabe« zu tun. Carlos Kleiber, Leonard Bernstein, Claudio Abbado – sie erkannten das Talent und förderten es auch über kleinere Auftritte wie etwa in Bizets »Carmen«. Die wohl prägendste Dirigenten-Persönlichkeit wurde für ihn der erst vor wenigen Wochen verstorbene Nikolaus Harnoncourt. 22 Jahre alt war Nigl 1994, als er den ingeniösen Verfechter des Orignalklangs traf. Harnoncourt engagierte ihn für die wenig bekannte Haydn-Oper »L’Anima del filosofo« und gab ihm wertvolle Ratschläge. Darunter den, dass reiner Wohlklang vollkommen wertlos sei ohne tiefes Empfinden. Vielfach sind sich Harnoncourt und Nigl begegnet, wobei die Aufführung von Schuberts Oper »Alfonso und Estrella« zum wichtigen Impuls für den Schubert-Sänger wurde.
Seitdem hat er häufig dessen große Liederzyklen gesungen. Außerdem konnte Nigl seinen Komponistenfreund Wolfgang Mitterer zu der etwas anderen Schubert-Hommage »Im Sturm« für Bariton, präpariertes Klavier und Elektronik inspirieren. Stand dort der in der Liebe so sehr erfolglose Schubert im Mittelpunkt, widmet sich Nigl in seinem jüngsten Schubert-Projekt dem schauerlichsten und tiefgründigsten Liebes- und Leidensdrama des Liedgesangs, der 24-teiligen »Winterreise«. Bereits 2014 entstand die in der Kölner Philharmonie gastierende szenische Einrichtung durch Johan Simons, damals noch Intendant der Münchner Kammerspiele, zurzeit der Ruhrtriennale und demnächst des Schauspielhauses Bochum. Während Nigl auf seiner dunkel grundierten Wanderschaft von Andreas Staier am Hammerklavier begleitet wird, erklingen zwischen den Liedern extrem zerbrechliche Piècen für Ensemble, die der Franzose Mark Andre für diese »Winterreise« komponiert hat. Wir werden um den einsam fahrenden Gesellen Nigl »Gefror’ne Thränen« weinen.
Georg Nigl, Andreas Staier, Ensemble intercontemporain, Julien Leroy: 3. April 2016, Philharmonie Köln