Einen roten Strampelanzug ließ sich Johannes Rau, damals Vorsitzender der Landtagsfraktion der NRW-SPD, von seiner Sekretärin besorgen, um vor der Diskussion mit Rudi Dutschke (die wir hier in Auszügen dokumentieren) das Kleidungsstück dem Studentenführer als Geschenk zu überreichen. Denn kurz vor dem Aufeinandertreffen der beiden am 4. Februar 1968 in der Wattenscheider Stadthalle war Dutschkes Sohn Hosea Che auf die Welt gekommen. Wenn er tüchtig strampele, dürfe er mit 18 Mitglied der SPD werden, habe er, so erinnerte sich Rau später, Dutschke bei der Überreichung des Geschenks gesagt. Worauf Dutschke geantwortet haben soll: »Wenn der 18 ist, gibt es keine SPD mehr.« Rau wertete die etwa zweieinhalbstündige Diskussion hinterher als Erfolg für sich. »Aber ich war um Jahre gealtert.«
Seit 1966 regierte die SPD im Bund zusammen mit der CDU in einer großen Koalition. Acht Monate vor dem Aufeinandertreffen war bei einer Demonstration gegen den Deutschland-Besuch des Schahs von Persien Benno Ohnesorg erschossen worden; am 11. April 1968 sollte Dutschke selbst bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt werden; am 30. Mai erließ die große Koalition dann, begleitet von heftigen Protesten der außerparlamentarischen Opposition, die Notstandsgesetze. Wie aufgeheizt das Klima in dieser Zeit war, zeigt auch die Tatsache, dass schon im Vorfeld der Veranstaltung gestritten wurde, ob überhaupt diskutiert werden dürfe. So lehnte der Oberstadt- direktor Wanne-Eickels, ein SPD-Mitglied, es ab, den Saalbau der Stadt für die Veranstaltung zur Verfügung zu stellen, weil dieser, so seine Begründung, nur für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung stünde. In der Wattenscheider Stadthalle fanden sich schließlich 1.700 Menschen ein. Moderiert wurde das Gespräch von dem SPD-Mitglied Friedrich Steffen. Vor dem Hintergrund der gut 20-jährigen Tradi-tion der Bundesrepublik, so bemerkte Steffen in seiner Einleitung, sei den Diskutanten ein »schockierendes Thema« aufgegeben: »Sind wir Demokraten?«
STEFFEN: (…) Herr Dutschke, kann diese Gesellschaftsordnung durch politische Parteien verändert werden?
DUTSCHKE: Durch die bestehenden Parteien auf keinen Fall. (…) (Lang anhaltender Applaus im Publikum) Und, Genosse Rau, (Publikum lacht) ich muss schon sagen, in der Tat, es hat sich manches geändert in diesem Land seit einem Jahr, das meine ich auch. (…) Nun aber grad zur SPD. Nun sollten wir doch einmal die historische Kontinuität der SPD-Arbeit einfach sehen und sie nicht verdrängen. Der Weg der SPD ist bisher bis heute eine ununterbrochene Wiederholung historischer Fehler. Er ist ein ewiger Versuch, sich als staatstragende Partei auszuweisen und anzubiedern und immer in der falschen Stunde (Applaus). Und zwar darum in der falschen Stunde, weil in der Stunde der Gefahr nicht für die Demokratie, denn die gilt es erst herzustellen, sondern die Stunde der Gefahr für die bestehende Herrschaftsordnung (Applaus). (…) Die SPD ist mit daran schuld, dass der Faschismus gesiegt hat, beide Parteien, Arbeiterparteien, haben total versagt, ihre Aufgaben nicht erfüllt, das müssen wir einfach sehen (Applaus). Und so kommt hinzu auch 1966. (…) Wir hatten einen CDU-Staat, einen Staat der Kalten Krieger, einen Staat der Restauration. In dem Augenblick, wo der in Gefahr kommt, wird die SPD nicht Oppositionspartei, um die Massen zu mobilisieren und sie für den Sozialismus zu gewinnen, sondern steigt ein ins verrostete Geschäft der CDU (starker Applaus). Und so meine ich gerade, dass Demokratie und Sozialismus eine untrennbare Einheit bilden und erst aus der strukturellen Umwälzung der bestehenden Gesellschaft und der Entstehung einer wirklich sozialistischen Gesellschaftsordnung und nicht der, die glaubt, den Sozialismus gepachtet zu haben, die glaubt, Verstaatlichung mit Vergesellschaftung der Produktionsmittel identisch setzen zu können, sondern gerade jenen Sozialismus, von dem Rosa sagt, die Freiheit des Andersdenkenden, die Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden. (…)
Zwischenruf: Wie in der Sowjetzone, wollen Sie … (Rumoren)
DUTSCHKE: Da sehen Sie, sehen Sie, ich komme von dort, ich weiß, was dort los ist. Aber wir sind nicht mehr in einer Situation, wo wir die Idiotie des Ost-West-Gegensatzes uns als Politik vorschreiben lassen (Applaus). Und meine Frage an den Genossen Rau ist die, wenn er von der Basis dieser Demokratie spricht, dann soll er doch einmal konkret, materialistisch, institutionsmäßig interpretieren: Was ist die Basis unserer Demokratie? Welche Gruppen gewährleisten die Demokratie. Welche Gruppen verhindern, dass die staatlich-gesellschaftliche Gewaltmaschinerie in Polizeieinsätzen wie anlässlich des Schahbesuchs nicht ununterbrochen explodiert, wie sie jetzt explodiert in Bremen oder explodiert ist in Kiel, in Bochum, in Freiburg. (…)
STEFFEN: Meine Damen und Herren, die Frage hat gelautet: Kann unsere Gesellschaftsordnung durch die heutigen politischen Parteien geändert werden. Sie ist im ersten Satz von Rudi Dutschke beantwortet mit einem Nein. (…) Aber nun zu dieser Frage Johannes Rau (…)
RAU: Ich muss zuerst einmal feststellen, dass Rudi Dutschke auf meine Frage, ob sein Demokratieverständnis auf der Basis dessen bestehe, was wir an Grundstrukturen dieser Demokratie haben, ich meine speziell, das, was im Grundgesetz steht, ich meine die Gewaltenteilung, ich meine die freien, allgemeinen und geheimen Wahlen, ob diese Elemente für ihn unaufgebbar sind, auf diese Frage hat Rudi Dutschke nicht geantwortet.
DUTSCHKE: Will ich antworten, will ich antworten (Applaus).
STEFFEN: Vielleicht hat es daran gelegen … Meine Damen und Herren, es hat vielleicht daran gelegen, dass ich Rudi Dutschke nach sechs Minuten Sprechen das Wort genommen habe. Er kann gleich darauf eingehen.
RAU: Mir liegt daran, denn wenn Rudi Dutschke sagt, dass durch die bestehenden Parteien auf gar keinen Fall die Gesellschaft verändert werden könne, dann bin ich nicht nur, weil ich in der Politik bin (…) der Meinung, dass das geschehen kann. Sondern man müsste ja zunächst einmal rückfragen: Wie soll den diese Gesellschaft geändert werden? Und dabei kann man dann sehr kritisch danach fragen, ob die SPD immer in der richtigen Stunde das Richtige getan habe? (…) Wir sind davon überzeugt, das Richtige getan zu haben, aber immerhin sowohl in Bonn, als auch in Düsseldorf, ist eben dies erreicht, Herr Dutschke, dass der CDU-Staat kein CDU-Staat mehr ist, dass die CDU sich daran gewöhnen muss, dass sie in diesem Staat nicht allein zu regieren hat. Und wenn Sie stattdessen als Alternative angeben, dass die Massen mobilisiert werden sollen, dann frage ich: Ist Masse ein Qualitätsbegriff?
DUTSCHKE: Ja, ja, ja.
RAU: Wohin sollen Massen, für Sie ist das ein Qualitätsbegriff. Wir kommen damit …
Zwischenruf: Auch für uns!
RAU: Für Sie vielleicht auch (Applaus). Wir kommen damit zur Frage, was denn eigentlich nun die Zielvorstellung ist, die Sie dieser Demokratie und anderen geben wollen. Lassen Sie es mich überspitzt sagen, damit es deutlich wird. Ich habe zwei Stunden lang versucht, einmal die Vokabeln aufzuschreiben, mit denen Sie im wesentlichen Ihre Argumentation führen. Ich will sie nicht verlesen. Aber ich will sagen, ich habe die Sorge, dass die Höhenlage der Sprache nicht dazu dient, Ihre Ziele deutlich werden zu lassen, dass Sprache hier nicht verdeutlicht, nicht verständlich macht, sondern verschlüsselt. Und ich habe die Frage, wie denn die konkreten Ziele, wie denn im Gegensatz zur gegenwärtigen Bundesrepublik, die demokratische Gesellschaft aussehen soll, wie in ihr Macht kontrolliert, wie in ihr Herrschaft auf Zeit gewährleistet werden soll, wie in ihr Eigentum verteilt werden soll? Und da meine ich, bei allem Respekt vor den Vätern der sozialistischen Bewegung und bei allem Eingeständnis, dass die Fragen, die Marx und Engels gestellt haben, heute noch akute Fragen sind, die Antworten, die wir wie Barockengel, denen die Bänder aus dem Munde heraushängen, verlesen von damal …
DUTSCHKE: Wer macht das?
RAU: Viele machen das, Herr Dutschke.
DUTSCHKE: Aber nicht wir.
RAU: Ich habe eben hier Barockengel-Sprüche gesehen (Applaus). Diese Antworten, diese Antworten reichen nicht mehr aus, und es ist die Frage, ob überhaupt die Thesen, die hier am Anfang gestanden haben, von den Produktionsmitteln und der Veränderung der Besitzverhältnisse der industriellen Gesellschaft heute noch gerecht werden? Ob wir nicht viel weiter nach vorne müssen, ob nicht das Wiederholen und Aufbereiten alter Vokabeln im Grunde ein wenig zurück ist (Applaus).
DUTSCHKE: Müssen wir sehen.
STEFFEN: Vielen Dank. Meine Damen und Herren, wir müssen fairerweise Rudi Dutschke die Möglichkeit geben, auf die Frage von Johannes Rau nach der Gewaltenteilung noch einmal einzugehen, aber bitte auch nur darauf. (…)
DUTSCHKE: (…) In der Tat bin ich für Vertretungskörperschaften. Da stehe ich ganz klar und eindeutig auf dem Boden unserer Verfassung. Aber wir sollten ganz klar unterscheiden: Was nützt es uns, wenn wir ununterbrochen die Verfassung beschwören und die Verfassungsmöglichkeit gleichsetzen mit der Verfassungswirklichkeit. (…) Was wir als Verfassungswirklichkeit haben, nehmen wir ein Beispiel, ich weiß den Artikel, sie kennen ihn auch, die Parteien haben die Aufgabe, demokratisch an der demokratischen Willensbildung des Volkes teilzunehmen.
RAU: Mitzuwirken.
DUTSCHKE: Mitzuwirken. Haben Sie den Eindruck, dass unsere Parteien in Ihren Persil-Wahlfeldzügen diese Willensbildung systematisch betreiben? Oder haben Sie nicht eher den Eindruck, dass sie systematisch an der Verdunklung der bestehenden Verhältnisse mitwirken (Applaus). (…) die verschiedenen Kräfte, die Parteien, die pressure groups, die Industrieverbände, was treiben sie hier, was machen sie im Ruhrgebiet. Warum bekommen sie pro Zeche 35 Millionen Stilllegungsprämie zum Beispiel (Applaus). Und da kann der Genosse Rau noch so oft sagen: Alte Formeln. Aber mir schiene es ganz einsichtig zu sein, die Zechenbesitzer zu enteignen, den Grund und Boden für den Anbau neuer Industriezweige zur Verfügung zu stellen (Applaus).
STEFFEN: Meine Damen und Herren …
Zwischenruf: Die Frage beantworten …
DUTSCHKE: Gewaltenteilung ja.
(…)
RAU: Ich bin Ihnen die Antwort darauf schuldig, wer an der Basis oder wer die Basis dieser demokratischen Bundesrepublik Deutschland ausmacht. Ich glaube, dass das alle Bürger sind. (Rumoren) Ja, lesen Sie es mal nach.
DUTSCHKE: (Publikum lacht, auch Dutschke lachend) Ja, lesen wir es mal nach. Lesen wir es mal nach.
RAU: Und ich glaube, dass das in der Wirklichkeit noch nicht erreicht ist.
DUTSCHKE: Aha.
RAU: Ich bin der Auffassung, dass Demokratie ohnehin und vom Prinzip her ein System ist, das mit seinen eigenen Schwächen lebt und das den Auftrag und die Aufgabe hat, mit den jeweiligen Schwächen fertig zu werden (Applaus). Zu diesen Schwächen, die sich ändern, die vor zehn Jahren anders aussahen als sie heute aussehen, gehört der Polizeiterror, von dem Sie gesprochen haben, und zu diesen Schwächen …
Zwischenruf: Und der Studententerror.
RAU: Und zu diesen Schwächen gehört es, dass wir Gruppen haben, die sich als links interpretieren, und die mit Methoden arbeiten, die erstens die bürgerliche Welt gegen sie solidarisieren, (…) und zu diesem System gehört es, dass diese Gruppen, nach meiner Meinung und ich erinnere an die Diskussion, die Sie mit Habermas darüber geführt haben, dass diese Gruppen in der Gefahr sind, einem linken Faschismus anheim zu fallen (Applaus, Rumoren). Zu diesem System gehört es, ich habe gesagt in der Gefahr sind, und zu diesem System gehört es, dass sie eines Tages die Massen mobilisiert haben und nicht mehr bestimmen können und nicht mehr beeinflussen können, ob dieser Weg der Massen nach rechts und nach links geht. (…) Herr Dutschke, wenn es so einfach wäre in unserer Welt und in diesem Land Nordrhein-Westfalen, dass man Zechen, die mit Unterfinanz arbeiten, die Verluste machen, die unter der Krise leiden …
DUTSCHKE: Woher kommt die bloß?
RAU: Woher kommt die bloß, wahrlich, ja … (Publikum lacht und applaudiert).
DUTSCHKE: Diese Krise, könnte die nicht im Kapital liegen. Wäre doch die Frage jedenfalls.
RAU: Die Krise liegt im Markt, die Krise liegt in der Veränderung der Produktionsmittel, die liegt in der energiepolitischen Umstrukturierung dieses Landes … Zwischenruf: In der falschen Politik!
RAU: Und in der falschen Politik, deshalb haben wir die geändert (Publikum lacht und pfeift) Und eine so einfache Methode, Herr Dutschke, eine so einfache Methode, dass wir dann immer in Gemeineigentum oder wie immer Sie das nennen übernehmen, wenn der Wirtschaftszweig pleite ist …
DUTSCHKE: Nein, nein.
RAU: Eine so einfache Methode wünschen sich ganz andere Leute.
DUTSCHKE: Davon rede ich nicht.
RAU: Die Übernahme der Zechen durch Enteignung auf der Basis des Grundgesetzes, das Entschädigung vorschwebt (sic), die gefällt manchen so genannten Zechenbaronen hier im Revier außerordentlich gut. Die schlagen das schon vor.
DUTSCHKE: Nicht Entschädigung, nicht Entschädigung.
RAU: Das steht im Grundgesetz, Herr Dutschke.
DUTSCHKE: Ja, ja, das kann man regeln. Und zwar nicht auf Kosten der Lohnabhängigen, sondern auf Kosten der Konzerne zum Beispiel. (…)