Schlauer Sagenheld, grausamer Krieger, Seefahrer auf Irrwegen – von Odysseus hat jeder ein Bild vor Augen. Durch seine berühmte List mit dem trojanischen Pferd eroberte er nach einer Dekade der Belagerung Troja. Die Heimreise allerdings geriet zu einer – erneut zehnjährigen – Irrfahrt durch die Inselwelt der Ägäis. Immer wieder verscherzte der Grieche es sich mit den Göttern, die ihn auf- und von seiner Frau Penelope und dem mittlerweile erwachsenen Sohn Telemachos fernhielten. Seine »Odyssee« ist sprichwörtlich. Doch was sagt uns der antike Abenteurer heute? Diese Frage haben sich nun Giuseppe Spota, Chef der MiR Dance Company, und Felix Landerer, designierter Leiter und Chefchoreograf der Tanzsparte am Theater Bielefeld, gestellt. Ihre Antwort ist das Tanzstück »Odysseus«, eine abstrakte Arbeit, die mehr über die heutige Zeit erzählt, als man vermutet hätte.
Es sollte kein Handlungsballett sein, das die Episoden nacherzählt, darin waren sich die beiden schnell einig. Da Spota wie Landerer der zeitgenössischen Kunst verbunden sind, war es ihr Ansatz, die antike Thematik auf die heutige Zeit herunterzubrechen. Erstaunlicherweise entdeckte das Choreografen-Duo einige Parallelen zwischen dem Mythos und der aktuellen Weltlage.
Felix Landerer: »Uns bewegte weniger die Sage der Odyssee als die Menschen dahinter.« Und die stürzen von einer Ausnahmesituation in die nächste. »Odysseus ist jemand, dem zu viel Verantwortung aufgetragen wurde«, behauptet der gebürtiger Hannoveraner. Er verweist auf die vergangenen drei Jahre, in denen weite Teile der Menschheit mit Situationen konfrontiert wurden, auf die sie nicht vorbereitet waren. »Wir hatten gar nicht den Wissensstand, um mit diesen Herausforderungen klar zu kommen«, so der renommierte Tanzschöpfer. Erst war da Corona als permanente Überforderung. Dann der Ukraine-Krieg, der weite Teile der Weltbevölkerung betrifft. In Deutschland schüren extrem steigende Preise Abstiegsängste bis tief in die Mittelschicht hinein. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Und, natürlich die Klimakrise als allgegenwärtige Bedrohung.
Wir alle spiegeln uns in Odysseus
Odysseus – in ihm spiegeln wir uns also alle, die wir auf Reisen mit ungewissem Ausgang gehen mussten. Deshalb schicken Spota und Landerer gleich das ganze 17-köpfige Ensemble auf eine Odyssee und verzichten auf die eine Heldenfigur. Die Gruppe, einzelne Individuen, darunter auch Frauen, verwandeln sich in dem einstündigen Abend in den Irrfahrer. Sie versuchen, selbst zum heldenhaften Idol über sich hinaus zu wachsen oder jemanden in der Gruppe zu idealisieren. Oder eben das Gegenteil: Als Vertreter einer sinnlichen und menschlichen Kunstart treibt Landerer/Spota auch der Gedanke um: »Wie viel Menschlichkeit geht in diesen Situationen der Überforderung verloren?« Felix Landerers Ton gewinnt an Schärfe: »Das ist die Gefahr, die aktuell deutlich im Raum steht.« Deshalb sei ihre Botschaft, Menschlichkeit zu bewahren auch in Zeiten, die einen an die Grenzen bringen.
Die sagenhaften Figuren aus dem Epos des Homer wie die todbringenden Sirenen, Zauberin Kirke oder der Zyklop Polyphem verschwinden ebenso in der Abstraktion wie der Titelheld. Die Dramaturgie ist eher schlicht: Eine (Schiffs-) Besatzung macht sich auf den Weg und gerät immer mehr in unruhiges Gewässer. Es wird schnell deutlich, dass der Strudel sie ins Verderben reißt, sobald jemand eine falsche Entscheidung trifft. Verhaltensmuster wie Konkurrenzkampf, Machtstreben oder Neugier treten hervor. Einzelne Figuren müssen sich behaupten. Landerer: »Im Ukraine-Krieg erleben wir traurigerweise, wie sich Heldentum verewigen soll. Es ist ein dramatischer Rückfall in alte Denkmuster. Das versuchen wir spürbar zu machen.«
Für das Bühnenbild zeichnet Giuseppe Spota verantwortlich. Es soll ebenfalls das Motiv des Verirrens symbolisieren. »Mich haben die Bewegungen des Meeres inspiriert. Die Wellen, die sich an Felsen brechen«, sagt der Italiener, der in der Hafenstadt Bari an der Adria aufgewachsen ist. Er hat eine Drehbühne konstruiert, durch die sich das Bühnenbild ständig verändert: mal Welle, mal Berganstieg, mal Polyphems Höhle, mal Gefängnis. Es repräsentiere den Gemütszustand der Besatzung. Über der Konstruktion, so Spota, dienten hölzerne Planken den Akteuren als Tanzfläche.
Die Stimmungen »an Bord« spiegelt die Auftragskomposition von Christof Littmann. Er schrieb eine Partitur für Kammerensemble, live gespielt von der Neuen Philharmonie Westfalen. Es sei eine sehr feine, menschliche Musik, die durch brachiale elektronische Zuspielungen ergänzt werde, so Landerer. Dabei machten die improvisierten Passagen für das Orchester – das zunächst ein wenig irritiert gewesen sei – einen besonderen Reiz aus.
Wie ist es, zu zweit eine Choreografie zu kreieren? Beide lächeln entspannt. Ihre Tanzsprachen, einander stilistisch nah, würden sich im Stück miteinander zu einer Einheit verweben. »Als ich die Sequenzen von Felix sah, inspirierten sie mich zu nächsten Figuren und Szenen. Es war ein wunderbarer Austausch«, sagt Spota. Und Landerer: »Diese Art von Kommunikation und gegenseitige Unterstützung wäre nicht mit jedem/jeder Kolleg*in möglich gewesen wäre.« Es klingt ehrlich.
Wieder am 10., 19. und 25. Februar (bis 8. April 2023)