»Ich tue dir nicht weh«, steht in schnörkeliger Kinderschrift auf der Pappe. »Ich rede statt zu treten. Ich lache dich nicht aus.« Das Plakat trägt die Überschrift »Unsere Regeln« und hängt im Treppenhaus der Herbartschule in Essen-Katernberg. Wer den Stadtteil kennt, der ahnt, warum solche Sätze hier hängen. Die Grundregeln menschlichen Zusammenlebens können hier ebenso wenig vorausgesetzt werden wie die Fähigkeit, rückwärts zu gehen oder auch nur, eine Geige von einer Gitarre zu unterscheiden.
Der Mann, der sich vorgenommen hat, das zu ändern – die Sache mit der Geige, aber auch dem Zusammenleben – sitzt mit freudig erregtem, leicht gerötetem Gesicht auf einer schmalen, langen Holzbank in der Schul- Turnhalle. Wenige Meter weiter singen Hunderte Grundschüler »Hej-Ho« und stampfen dazu mehr oder weniger rhythmisch auf den Hallenboden. Einen ganzen Schultag lang haben sie auf afrikanisches Schlagwerk geklopft, sind auf einem Bein gehüpft, wie ein Frosch gesprungen und durch imaginäre Zauberwälder getanzt. Und sie sind noch immer nicht müde.
»Phänomenal«, sagt Michael Kaufmann, Intendant der Philharmonie Essen. »Ich fühle mich wie im siebten Himmel. Ich hab’ das Gefühl, dass hier gerade etwas Wichtiges passiert. « Es klingt ein bisschen stolz. Wenn sein Plan klappt, dann kann er das wohl auch sein.
Denn der Plan lautet: Kinder, die Zugang zu Musik bekommen, die wissen, was eine Geige von einer Gitarre unterscheidet und die gelernt haben, sich in ihrem Körper wohl zu fühlen – die könnten noch rechtzeitig die Ausfahrt von einem vorgezeichneten Weg erwischen, der sie vermutlich nicht viel weiter als von Essen-Katernberg bis Essen-Vogelheim brächte – was durchaus kein Aufstieg wäre. Die Ausfahrt zu erwischen, das kann in Katernberg zum Beispiel bedeuten, nach der Grundschule aufs Gymnasium zu kommen.
Die Philharmonie, die Michael Kaufmann leitet, ist nur zehn Kilometer von Katernberg entfernt – und doch liegen Welten dazwischen. Kaum ein Kind, das auf die Herbartschule in Katernberg geht, wäre in seinem Leben vermutlich je mit dem Konzerthaus in Berührung gekommen. Im Norden verläuft der Emscher-, im Süden der Ruhrschnellweg. Zwischen A 42 und A 40, den Haupt- Verkehrsadern im Revier, liegt Katernberg, Heimat für rund 24.000 Menschen, darunter 4.000 Ausländer. In manchen Straßenzügen lebt fast jeder zweite von der Sozialhilfe. In der Herbartschule sind nur 15 Prozent der Schüler deutsch. »Vor sechs Jahren stand die Schule kurz vor der Schließung. Dann ging ein Ruck durchs Kollegium: Wir wollten zeigen, dass auch an Standorten wie Katernberg guter Unterricht möglich ist«, sagt Schulleiterin Angelika Sass-Leich. Seit 1999 hat ihre Schule jede Chance genutzt, Profil zu gewinnen.
Die Zeit, die für das Beantragen, Beschreiben und Verwalten diverser Projekte drauf gehe, sei immens, sagt sie. Doch es hat sich gelohnt. Die Schule gibt es noch, sie ist sogar offene Ganztagsgrundschule geworden, und inzwischen hat die Rektorin Ziele, für die sie wohl noch vor ein paar Jahren ausgelacht worden wäre: »Ich will, dass deutsche Eltern ihre Kinder in Zukunft ganz bewusst auf unsere Schule schicken, weil wir den Kindern hier etwas bieten, was es sonst nirgends gibt.« Dazu gehört zum Beispiel das jüngste Projekt der Herbartschule: Die Kooperation mit der Philharmonie Essen und dem Orff-Institut der Universität Mozarteum Salzburg.
Katernberg ist ein Stadtteil, der nach der Schließung von Zeche und Kokerei zu lange sich selbst überlassen war. Zollverein, das war nicht nur der wichtigste Arbeitgeber, sondern Mittel- und Bezugspunkt. Bergarbeitersiedlungen, Bahntrassen und Halden bestimmen noch heute das Bild. Inzwischen steht Zollverein unter Denkmalschutz, Katernberg ist Standort des Weltkulturerbes. Für Industriekultur- Touristen ist das Bauhaus-Ensemble der Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer ein Muss. Doch zwischen Designmuseum und dem schicken »Casino«-Restaurant, zwischen Choreographischem Zentrum und Shops, in denen romantisierte Spuren der Schwerindustrie als Devotionalien verkauft werden – irgendwo dazwischen sind die Katernberger auf der Strecke geblieben. Sie hätten wohl lieber Arbeit als Museen.
Inzwischen hat Katernberg aufgeholt. Mit der behördlichen Einstufung als »Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf« fing es an, inzwischen gilt die Integrationsarbeit im Stadtteil als vorbildlich. Polizei, Jugendhilfe, Kindertageseinrichtungen und Schulen, islamische Gemeinden und Stadtteilbüro arbeiten ausgezeichnet zusammen. Man kann heute nach Essen-Katernberg fahren und mühelos beide Thesen belegen: Die von einem Stadtteil, der es geschafft hat, sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf zu ziehen. Und die von einem Viertel, das noch immer unter dem Druck von Getto-Bildung und Kriminalität, Arbeitslosigkeit und mangelnder Bildung ächzt. Assoziationen zu Frankreich sind nicht weit – zu angestauter Wut über Perspektivlosigkeit in einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, die plötzlich Autos in Brand setzte und Vandalismus schuf. »Was in Frankreich passiert, hat mich darin bestärkt, dass es richtig ist, was wir tun«, sagt Schulleiterin Sass-Leich. »Wir wollen ja gerade Kräfte umlenken, den Kindern einen Anschluss verschaffen.« Es war nicht Frankreich, es war ein Artikel in der Zeitschrift stern, der Michael Kaufmann wach gerüttelt hat. Unter der Überschrift »Das wahre Elend« beschrieb der Reporter darin Ende 2004, wie Katernberg verwahrlost. Nicht äußerlich: Katernberg präsentiert sich dem Besucher malerisch mit renovierten Siedlungshäusern und ordentlichen Vorgärten. Dennoch verwahrlose hier die neue Unterschicht, schrieb der Reporter, und das Problem sei kein Mangel an Geld, sondern an Geist.
Auch Sissi aus Salzburg hat den stern-Artikel gelesen und war bei ihrem ersten Besuch in Katernberg überrascht: Es sehe ja gar nicht so schlimm aus wie befürchtet. Ein Armenviertel habe sie sich anders vorgestellt. Sissi aus Salzburg gehört zu Michael Kaufmanns Plan. Sie studiert am renommierten Orff-Institut der Universität Mozarteum Salzburg, eine interdisziplinäre Einrichtung, in der Studierende eine Musik- und Tanzausbildung erhalten, um damit in pädagogische Berufe zu gehen. Absolventen des Orff-Instituts arbeiten mit Kindern, mit Migranten, mit Behinderten oder in Altenheimen. Musik und Tanz, erklärt Mozarteum-Professor Klaus Feßmann, sind Sprachen, die alle Menschen verstehen und mit denen sich jeder ausdrücken kann. Kinder seien von Natur aus heiß auf Musik und Bewegung. »Man muss diesen Enthusiasmus einfach auffangen und nutzen. « Gewaltprävention ist natürlich eines der Ziele, aber man kann es auch positiv sagen: Die Musik-Tanz-Stunden sollen den Kindern Perspektiven eröffnen, Spaß machen, ihr Leben bereichern.
Klaus Feßmann und Michael Kaufmann kennen sich seit Jahrzehnten. In den 1980er Jahren haben sie ein Gitarren-Festival im schwäbischen Nürtingen initiiert, Kaufmann war kaufmännischer und Feßmann künstlerischer Leiter. Man kennt sich und weiß, dass man zusammenarbeiten kann – ein Muss bei einem Projekt, das so aufwändig und überdimensioniert ist wie jenes in Katernberg: Seit November fährt jeden Freitag eine Gruppe Studierender von Salzburg nach Essen, um Drittklässlern eine doppelte Schulstunde lang Klang- und Körpererfahrung zu vermitteln. Für die Salzburger gehört das zu ihrem Seminar »Musik und Tanz in fächerübergreifenden Gestaltungsprojekten«. Einige Studierende kommen auch nur nach Essen, um den Unterricht zu beobachten und wissenschaftlich zu begleiten – schließlich soll das Projekt nach Ende der Pilotphase Schule machen.
Nach dem Unterricht fahren die Studenten zurück nach Österreich. Ein Wahnsinn? Na klar, gibt Michael Kaufmann zu. »Aber die Gefahr, dass so ein Projekt scheitert, wäre mit einer Hochschule aus der Region viel höher. Es ist wichtig, so eine Sache so hoch wie möglich zu hängen, damit es niemand mehr stoppen kann. Mittlerweile haben alle Beteiligten zu viel da rein gesteckt.« Schon eine Kooperation zwischen zwei Institutionen kann den Beteiligten den letzten Nerv kosten, wenn eine öffentliche Einrichtung darunter ist. Vielleicht aber liegt das Geheimnis dieses Projekts gerade darin, dass Michael Kaufmann dafür keine Anträge geschrieben hat. Er hat Fakten geschaffen.
Es scheint zu funktionieren: Am Ende des Schuljahres gibt es eine Aufführung, bei der die Kinder auf der Konzerthaus-Bühne stehen. Ein Schulchor steht kurz vor der Gründung. Die Philharmonie kommt mit zwei Aufführungen von »Hänsel und Gretel« in die Schule, gleichzeitig sollen die Kinder innerhalb eines Schuljahres mindestens drei Mal ein Konzert an der Huyssenallee besuchen. Bezahlt wird all das noch aus dem Etat der Philharmonie; 450.000 Euro sind dafür bislang vorgesehen. Lange reicht das natürlich nicht, immerhin ist »ReSonanz und AkzepTanz«, wie das »musisch- kulturelle Spiel- und Lernprojekt« in schönstem Kultur-Soziologen-Deutsch heißt, auf drei Jahre angelegt – mindestens. Michael Kaufmann will demnächst Stiftungen und Sponsoren begeistern. Doch bevor er auf Betteltour geht, will er Ergebnisse zeigen können.
Wer erst einmal gesehen hat, was die Studenten bei den Grundschülern bewirken können, der muss das Projekt einfach unterstützen, so Kaufmanns Kalkül.
Zum Beispiel Sissi. Sie und ihre Kommilitonin Arnika haben ihre Instrumente mitgebracht. »Eine Flöte!«, ruft eines der Kinder, als Arnika ihre Oboe auspackt. Vorsichtig schraubt sie das Instrument zusammen, erzählt von Rosenholz und goldenen Kappen. »Ist das echtes Gold? Wie viel hat das gekostet? «, will ein Junge wissen. »Viel Geld«, antwortet Arnika, »aber das Wertvollste daran ist der Klang. Die Oboe ist das Instrument, das in jedem Orchester den Ton angibt.« Absolute Stille herrscht, als Arnika durch sanftes Klopfen auf die Oboen-Klappen leise »Plopps« erzeugt. Die Kinder sind erstaunt, dass Arnika ihnen erlaubt, ihr kostbares Instrument einfach so anzufassen. Ehrfürchtig, als hätten sie dünnes Glas in der Hand, reichen die Grundschüler die Oboe von Hand zu Hand. »Ich war erstaunt, wie konzentriert die Kinder sind, dass sie so lange still sitzen können«, sagt Arnika später.
Ein paar Räume weiter geben die Studentinnen Melina und Angelika eine Stunde unter dem Titel »Tanz, Statuen und Skulpturen «. Vor dem Klassenraum der 3A stehen Dutzende Schuhe, die Kinder drinnen laufen auf Strümpfen. »Ihr kommt langsam in einen Zauberwald«, sagt Angelika mit sanfter Stimme, »was gibt es da alles?« »Fliegende Besen«, ruft ein Junge. »Monster!«, ein anderer. »Ihr habt jetzt eure Augen auf euren Händen. Schaut euch um!«, fordert Angelika sie auf und bewegt ihre Hand suchend wie ein Teleskop durch den Raum. Die Kinder schleichen durch das Klassenzimmer, die Arme in die Luft gestreckt.
»Hu-ah!«, macht plötzlich Mike, gerade noch ein Zauberwesen und nun ein Action- Held. Er streckt seinem Mitschüler Riza Can einen Arm entgegen, als wolle er einen Schlag abwehren, und tritt gleichzeitig mit einem Bein in die Luft. Unmerklich, unbewusst gehen die Bewegungen des Jungen über in eine asiatische Kampf-Choreografie, wie sie ihm von Computerspielen und aus dem Fernsehen vertraut sind. Sich bewegen, das bedeutet für viele Jungen aus Katernberg vor allem: kämpfen, raufen, schlagen. Sie haben gelernt, ihren Bewegungsdrang so zu kanalisieren.
Mädchen reagieren anders: Sie machen nach, was die Studentinnen ihnen vorgeben; viele können ihre Augen gar nicht abwenden von den jungen Frauen. Die kleine Merve hängt sich wie eine Klette an Studentin Verena, umarmt sie und schaut sie mit erwartungsvollen Augen an. Verena wird ein bisschen unsicher, lässt es aber geschehen. »War es heute schon lustig?«, fragt sie mit charmantem österreichischen Akzent. »Ja«, sagt Merve. Ihr Blick bleibt weiter an Verena kleben. »In der Musik finde ich meine Heimat, meine Ruhe, mich selbst«, sagt Michael Kaufmann, Jahrgang 1961, geboren im badenwürttembergischen Heidenheim. »Wenn ich früher dachte, niemand versteht mich, dann hab ich Musik gemacht.« Für ihn, der sein Abitur an einem Musik-Internat gemacht hat, ist ein Leben ohne Musik nicht denkbar. »Das Projekt ist ein Geschenk für die Kinder«, sagt er. Wenn die Grundschüler im kommenden Mai auf der Bühne der Philharmonie stehen und präsentieren, was sie das ganze Schuljahr über eingeübt haben, dann werden sie das ihr ganzes Leben lang nicht vergessen, glaubt er. Dass auch nur ein Bruchteil der Kinder durch das Projekt zu regelmäßigen Philharmonie- Besuchern oder gar Abonnenten der Zukunft werden könnte, das glaubt er eher nicht. Darum geht es ihm nicht, sagt er, und man nimmt es ihm ab.
Obwohl Musik, das weiß auch Kaufmann, schon unglaubliche Wunder gewirkt hat.