TEXT: ALEXANDRA WACH
Schmutz und Hitze tauchen die Staubsaugerfabrik in dumpfes Sonnenlicht. Unnütze Fensterrahmen lehnen an einer Wand. Über den Dachkaminen hängen dicke Wolken. Das einem Flugzeughangar ähnelnde Gebäude war wohl eins der wenigen modernen Vorzeigeprojekte, die Walker Evans 1935 auf seiner Reise durch West Virginia vorfand. Obwohl der Koloss auf das Konto des New Deal und der Farm Security Administration ging, die den Fotografen mit der Dokumentation der grassierenden Verelendung im Zuge der Wirtschaftskrise beauftragt hatte, strahlt das Motiv keinerlei Zuversicht aus. Die Adressaten der staatlichen Hilfsmaßnahmen, die in Not geratene Landbevölkerung, glänzen durch Abwesenheit.
Evans nüchterne Perspektive auf die Folgen der Großen Depression kommt nicht von ungefähr. Unzählige Reihen billiger Holzhäuser hatten da bereits die Linse seiner Kamera gekreuzt, aufgenommen aus dem Zug, eingepfercht zwischen Strommasten und Landstraße oder direkt vor Ort im Wohnzimmer der arbeitslosen Bergarbeiter, die ihre kärglichen Behausungen mit Werbetafeln von Coca Cola und ausrangiertem Sperrmüll schmückten. Auf seinen nächsten Stationen in Louisiana, Mississippi, Alabama und South Carolina sah es nicht anders aus. Überall die gleichen öden Quartiere, deren Bewohner scheinbar längst das Weite gesucht haben. Der Niedergang war allgegenwärtig. Selbst die Herrenhäuser mit ihren neoklassizistischen Ambitionen wirkten wie Relikte einer Zivilisation, die ihre besten Zeiten hinter sich hatte.
Zu Propagandazwecken oder als Beitrag zu einer moralischen Debatte taugten diese lakonisch durchkomponierten Kunstfotos kaum. Der engagierte Anklageton, der in jedem Alltagsausschnitt seiner Kollegin Dorothea Lange steckte, fehlte. Dass sich Walker Evans als Künstler empfand, äußerte sich schon darin, dass er gleich mehrere Fotoapparate auf seine Mission mitgenommen hatte. Die Bilder von Industriestädten, Tankstellen, Kirchen, Plakatwänden, Autofriedhöfen oder Pächtern und Tagelöhnern lichtete er oft zweimal ab.
Nicht jedes Bild schickte er nach Washington. In seine eigene Sammlung wanderten sie indes fast alle. Die unspektakulären Reportagen stehen bis heute für den amerikanischen Traum, wenn auch ex negativo. Als Entzauberung des nationalen Mythos und zugleich auch Triumph der Fotografie als künstlerisches Ausdrucksmittel. 1938 richtete das New Yorker Museum of Modern Art dem berühmt gewordenen Chronisten der kollektiven Misere eine große Schau unter dem Titel »American Photographs« aus. Es war die erste einem Fotografen am Haus ausgerichtete Einzelausstellung überhaupt und der vorläufige Höhepunkt seiner Laufbahn.
Die Anerkennung, die Evans genoss, war so gewaltig, dass man ihm sogar die Hängung überließ. Bis zur Eröffnung griff er in die Chronologie ein, setzte auf unlogische Sprünge und unkonventionelle Präsentation auf Pappe. Der gemeinsame Nenner der 100 Bilder erschloss sich lediglich durch formale Analogien. Die surrealen Anklänge verschwanden in den nachfolgenden U-Bahn-Arbeiten gänzlich. Dank eines mattschwarz lackierten Fotoapparats blieben Evans voyeuristische Absichten unbemerkt. Das Objektiv verrichtete seine Arbeit durch ein Knopfloch.
Das Ergebnis war eine mehr als authentische Galerie tief in sich versunkener Großstädter im Schutzraum vermeintlicher Anonymität. Ihre Profession ist trotz Dunkelheit den Matrosen, Verkäuferinnen, Hafenarbeitern und Hausfrauen dank der Abwesenheit von Posen anzusehen. Es sind seltsam entrückte Geschöpfe, die einem weitschweifenden Roman entstammen könnten.
Nur wenige Jahre später beendete der Krieg den Aufstieg des kompromisslosen Newcomers, der 1903 in St. Louis geboren war. Seit 1943 verdingte sich Evans für den Presse-konzern Time-Life als fest angestellter Fotograf. Seine Bildessays für das Magazin Fortune wirkten professionell, aber auch seltsam leidenschaftslos. Er mutierte zum Pressefotografen unter vielen. Der Glanz des Nonkonformisten war dahin.
Dass der Beruf ohnehin nur seine zweite Wahl war, passt ins Bild des von seinen Biografen als bissig, kalt und selbstbezogen verschrienen Dandys, der auf den Jugendporträts die Widerborstigkeit eines frühreifen Rebellen versprüht. Der Sohn eines Webetexters wollte eigentlich Schriftsteller werden. Durchhaltevermögen gehörte damals freilich noch nicht zu seinen Stärken. Das Literaturstudium brach er nach einem Jahr ab, eine Grand Tour durch Europa versprach mehr Inspiration. An Paris kam in den Roaring Twenties kein Amerikaner vorbei. Evans schrieb sich 1926 an der Sorbonne ein, landete aber schnell in einem Fotostudio. Der ambitionierte Praktikant wählte nicht irgendwen zum Lehrmeister aus – es war Paul Nadar, der Sohn des großen Porträtisten der Pariser Bohème, dem er die Geheimnisse der Lichtkunst abzuschauen hoffte. Nach Abstechern an die italienische Riviera steuerte der 24-Jährige die Heimreise nach Manhattan an, desillusioniert über seine dichterischen Fähigkeiten und mit dem festen Vorsatz, in der Fotografie, »als Ersatz für das Schreiben«, sein Auskommen zu finden.
Der Einfluss der europäischen Moderne auf sein Werk war von Anfang an präsent. Als wäre er ein Schüler von Moholy-Nagy oder Rodtschenko, experimentierte der Straßenflaneur mit der vertikalen Aufsicht. Beflügelt vom Bauboom, stürzte er sich auf die Wolkenkratzer, die überall aus dem Boden schossen. Evans verpasste den Ungetümen den Anschein geometrischer Grazie, und die Schiffe im Hafen verwandelten sich vor seinem abstrakt gezoomten Auge in Beweisstücke neusachlichen Sehens. Lange vor Ed Ruscha verguckte sich der Debütant in Schilder und Schriftzüge. Auch diese ereilte das Schicksal der ornamentalen Verfremdung. Nicht selten verschwimmt der Inhalt vor der Folie kontrastierender Oberflächen und streng linearer Muster.
Kompositionen, die in der Retrospektive »Walker Evans. Decade By Decade« in der Photographischen Sammlung/Sk Stiftung Kultur auf das Frühwerk verweisen. Ein mehr als passender Ort für die aus dem Cincinnati Art Museum kommende Wanderausstellung von 2010, die nach der Station am Rhein in Linz und Amsterdam zu sehen sein wird. Schließlich hatte sich Evans 1931 mit August Sanders Klassiker »Antlitz der Zeit« in der Zeitschrift Hound & Horn lobend auseinander gesetzt, einem der Fotografen, der in der Sammlung der Kölner Institution einen Ehrenplatz einnimmt. Das rund 200 Vintage Prints umfassende Konvolut stammt überwiegend aus dem amerikanischen Privatbesitz von Clark und Joan Worswick, ergänzt durch Leihgaben aus deutschen Sammlungen.
Erfreulich ist der Ansatz von Kurator James Crump, den Schwerpunkt auf jene Werkphasen zu legen, die unter der zuvor auf die Große Depression fixierten Rezeption unbeachtet blieben. Dazu gehört allen voran die frühe Serie viktorianischer Anwesen, denen Evans bei allem Respekt für die Würde ihres Alters mit seiner 8×10-Großbildkamera groteske Details abzugewinnen vermochte. Ursprünglich waren diese auffällig flach inszenierten Zeugnisse der architektonischen Vergänglichkeit als Material für ein Buch über die amerikanische Architektur gedacht, das jedoch nie konkrete Züge annahm. Für Evans erwies sie sich trotzdem als wichtige Lektion. Noch 30 Jahre später notierte er über seine damalige Motivation: »Evans war und ist an dem Anblick interessiert, den jegliche Gegenwart als Vergangenheit bieten wird.«
Ob ihn ein Rest Frustration ein Jahr später zu der Reise nach Tahiti bewogen hat? Die selten gezeigte Serie legt bereits die Anzeichen jener Emotionslosigkeit frei, die seine sozial camouflierten Reportagen bevölkern wird. Von karibischer Idylle keine Spur. Die Natur ist sich selbst genug, die Einheimischen schrumpfen zum Inventar folkloristisch überladener Innenräume. Auf Kuba, wo er die Missstände unter der dortigen Diktatur einfangen sollte, erfüllt Evans die Vorgaben der Auftraggeber nur, solange Zufälle seine Vorliebe für Kurioses wecken, wie die Schaufensterpuppe eines farbigen Kindes, das unter den geometrisch verlaufenden Rohren eines maroden Brunnens ausharrt. Die afrikanischen Skulpturen und Masken, die er danach für das New Yorker Museum of Modern Art dokumentierte, überstrahlt eine frösteln machende Distanz, als würden diese majestätischen Artefakte von einem Eindringling aus der Zukunft auf ihre rein funktionale Bestimmung abgeklopft.
Den kanonischen Aufnahmen aus dem amerikanischen Süden folgen Einblicke in die Unterhaltungsindustrie der Kriegszeit, hinter die Kulissen von New Yorker Theatern und Zirkuskuppeln. Den seit den späten 40ern aufkeimenden Konsumrausch kommentiert Evans mit bewährten Mitteln. Preisschilder und überquellende Ladefronten treffen auf Ruinenstudien von einsamen Altbaufassaden, die als letzte Mohikaner gleichförmigen Betonklotzen trotzen. Zur alten Hochform findet Evans Ende der 60er, als er seinen Kollegen Robert Frank in dessen Sommerhaus nach Neuschottland begleitet. Da erfreut er sich bereits einer Professor für Fotografie in Yale. So karg wie die Landschaft ist auch die Unterkunft in einem Holzverschlag mitten auf einer leergefegten Wiese. Zwei seelenverwandte Einsiedler scheinen hier einen Pakt zu schließen, auf einer Bühne, die als Spiegel ihrer verdunkelten Seele dient.
Wie gut, dass das Finale nicht mit Farbe geizt. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1975 nämlich griff Evans zur Sofortbildkamera. Die Polaroid SX-70 ermöglichte es ihm, kleinste Ausschnitte hervorzuheben, verwackelte Linien, sich auflösende Oberflächen, orange rostende Hauseingänge, oder prosaische Straßenmarkierungen, die in Großaufnahme zu rätselhaften Zeichen mutieren.
Ähnlich unnahbar wie ihr Urheber. Der war innovativ, einflussreich – und schwierig. Ein Jahrhundertkünstler eben.
21. September 2012 bis 20. Januar 2013, SK Stiftung Kultur. Katalog bei Hatje Cantz. Tel.: 0221/88895 300. www.sk-kultur.de