Sie beschäftigten sich schon mit Frauen aus der Arbeiterklasse, mit Reinigungskräften in Hotels (»Bitte nicht stören«, 2023) und Roma in Europa (»Gypsies«, 2017). Am Theater Oberhausen inszenierten sie in der vergangenen Spielzeit das dokumentarische Theaterprojekt »§ 218» – Frauen, die abgetrieben hatten, wurden dafür nach ihren Erlebnissen befragt, der politische Protest gegen den Paragrafen vor Ort recherchiert. Das Künstlerinnenkollektiv werkgruppe2 widmet sich immer wieder Menschen und sozialen Gruppen, die sonst selten sichtbar sind auf Bühnen und Leinwänden. Diesmal: die Polizei. Bei den Ruhrfestspielen wird ihr dokumentarisches Theaterprojekt »Hier spricht die Polizei« am 16. Mai uraufgeführt.
Es war bei einer Diskussionsveranstaltung der Ruhrfestspiele mit dem DGB zum Thema »Solidarität«, bei der Dramaturgin Silke Merzhäuser Schilderungen »der Gegenseite« gehört hat, über das, was es bedeutet für Polizist*innen, mit »Scheiße beschmissen« zu werden. Sonst kennen sie und ihre beiden Kollektivpartnerinnen Julia Roesler (Regie) und Insa Rudolph (Musik, Komposition) vielmehr die Perspektive der Demonstrierenden, die polizeikritische Haltung. Stereotype Urteile und klischierte Vorstellungen über Gruppen und Institutionen sind es, die die Werkgruppe2 interessieren. »Wenn wir das Gefühl haben, es könnte gut für die Gesellschaft sein, mehr und dezidierter darüber zu wissen, dann beschäftigen wir uns mit einem Thema«, erzählt Julia Roesler. So war es auch mit der Polizei. Zur gesellschaftlichen Wahrnehmung dieser Institution und zum heftig diskutierten Thema Polizeigewalt haben sie etwa ein Jahr lang recherchiert. Gestartet sind sie damit in Lützerath. Bei der Räumung des Klimacamps im rheinländischen Braunkohlegebiet waren sie dabei – und zwar auf der Seite der Polizist*innen. Sie begleiteten die Gewerkschaft der Polizei, die für die Versorgung der Gruppen zuständig war. Eine »eindrucksvolle, intensive Erfahrung«, sagt Roesler.
Interviews mit Polizist*innen
Im Anschluss interviewten sie 20 Polizist*innen, aus Recklinghausen, dem weiteren Ruhrgebiet und aus Niedersachsen. Jeweils anderthalb Stunden lang, manchmal auch länger. Auf der Basis dieser Interviews haben sie eine Textfassung geschrieben. »Das Panorama der Figuren ist sehr breit, die Range von Meinungen und Positionen groß«, erzählt Roesler. Es gibt Einsätze, die von vielen Polizist*innen beschrieben werden, wie die am 1. Mai in Berlin. Es gibt auch einen Polizisten, der bei der Loveparade 2010 in Duisburg eingesetzt war. Allein anhand der Polizei lasse sich auch ein Stück deutsche Geschichte erzählen. Kernfrage der Inszenierung wird sein, was es bedeutet, wenn man das Gewaltmonopol hat. Und was es mit den Menschen macht, wenn sie so viel Gewalterfahrungen machen, wenn sie ständig gewaltvollen Situationen ausgesetzt sind wie die Polizist*innen bei ihrer Arbeit, von der häuslichen Gewalt, die sie versuchen müssen zu schlichten, bis zur Gewalt bei Demonstrationen, die gegen sie selbst ausgeübt wird. »Das prägt die Menschen«, meint Roesler.
Diese Emotionalität extremer Ereignisse soll in der Arbeit auch durch eine musikalische Übersetzung vermittelt werden; auch das Nachdenken, die Verletzlichkeit der interviewten Polizist*innen. Zusammen mit der Musikerin und Komponistin Insa Rudolph gründete Julia Roesler 2006 die freie Künstlerinnenkompanie werkgruppe2. Seit 2009 und gemeinsam mit Silke Merzhäuser konzentrieren sie sich auf dokumentarische Recherchearbeiten, sie produzieren Theaterinszenierungen, Filme, Hörspiele und Podcasts. Die Musik ist dabei immer ein gleichberechtigtes Element, ist immer live beteiligt und wird neu komponiert, auch aus ungewöhnlichen Klangquellen, gesammelten Geräuschen oder einzelnen Sätzen und Stimmen.
Für ihre Theaterinszenierungen docken sie an Festivals und feste Häuser an – eine Win-Win-Situation für beide Seiten: nur freie Theatermachende können sich so viel Zeit nehmen für lange Recherchen, am Stadttheater profitieren sie dann von den Strukturen, den Werkstätten, den Bühnen und dem festen Ensemble. »Hier spricht die Polizei« ist eine Koproduktion der Ruhrfestspiele mit der werkgruppe2 und dem Schauspiel Hannover. Dort wird aktuell geprobt mit fünf Schauspielenden aus dem Ensemble und drei Musikern.
Gemeinsam wollen sie – wie immer – differenziert erzählen über ein gesellschaftlich komplexes Thema, über die soziale Wirklichkeit von Menschen, die sich nie bloß über Vorurteile auserzählen lässt. Und sie wollen nicht polarisieren, sondern vielmehr dazu anregen, über die Frage nachzudenken, wie »eine gute Polizei« aussehen könnte. Eine Polizei, der alle Menschen vertrauen.
»Hier spricht die Polizei«
16. bis 18. Mai
Ruhrfestspiele Recklinghausen
Mit »Vergnügen und Verlust« ist die diesjährige Ausgabe der Ruhrfestspiele überschrieben. Für Intendant Olaf Kröck ist das Vergnügen, die ausgelassene Freude, eine urmenschliche Fähigkeit und die Wiege unserer abendländischen Kultur. Nicht weniger thematisiere das Theater inhaltlich den Verlust – den Verlust von Menschen, von Liebe, Wohlstand oder Macht. In aktuellen Zeiten der Krisen und Kriege, der Bedrohungen der Demokratie könne die Kunst ein Ort der Hoffnung und Utopie sein. Insgesamt gibt es 220 Veranstaltungen mit über 620 Künstler*innen aus der ganzen Welt aus den Bereichen Schauspiel und Tanz, Literatur und Neuer Zirkus, Theater für junges Publikum, Musik und Kabarett.
Bis 8. Juni