Es ist das Wort der Stunde und gilt über Jahr und Tag hinaus: »Nur durch Mäßigung erhalten wir uns.« Für eine ins Einzelne zerfallene, dem »Ultra« und »veloziferisch« Geschwinden anhängende Gesellschaft, die Verzicht und Enthaltung, Abstand und Grenze und die Achtung vor den Naturgesetzen nicht ein- und aushält, ihre Ich-sagende Freiheit zum Fetisch erhebt und in der Masse mit dem selben Atemzug die Luft verpestet, muss Goethes Diktum aus den »Wanderjahren« Provokation und Kränkung darstellen.
Manfred Osten (geb. 1938), Geisteswissenschaftler, wie man ihn im besten Sinne versteht, und Goethe-Kenner wie wenige, nimmt eine Äußerung des Klassikers von 1829, die er Eckermann gegenüber tut, als Ausgangs- und Endpunkt seiner Reflexion: »Die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer Recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.« Der Anti-Extremist Johann Wolfgang von Goethe hält die »Temperantia« für die höchste Tugend. Sein früher, sich ‚unnatürlicher’ Leidenschaft überantwortender Held Werther folgt dieser Maßregel nicht. Goethe bringt ihn ums Leben.
Ostens immens gescheites Buch »Die Welt, ein großes Hospital – Goethe und die Erziehung des Menschen zum humanen Krankenwärter« zeigt, wie hell- und weitsichtig der universale Goethe sich selbst in den zyklischen Verlauf der Natur hineindenkt, -dichtet und -lebt und wie er die Wahrheit seines im tüchtigen Tun sich erfüllenden Seins und sein gesundes Urvertrauen musterhaft ins Mythische und Kosmische einordnet. Überdies die »große Vernunft« des Leibes, des Organischen und der sinnlichen Wahrnehmung zu schätzen weiß. Für seine Naturfrömmigkeit, die nicht im Christlichen das Allheilmittel findet, schaut Goethe über den Horizont des Okzidents hinaus. Seine Erleuchtung – ex oriente lux – scheint ihm sogar aus dem China des Konfuzius entgegen.
Entlegenes aus Goethes Geist
Das den Titel gebende Zitat stammt aus einem Brief an Charlotte von Stein. Wie überhaupt Osten selbst das Entlegenste aus Goethes Geist und Kopf und von seiner Hand parat hat und darüber sinnstiftend verfügt.
Der Frevel, den Goethe in Gestalt des ungeduldig rasenden, zügellosen, schuldhaft scheiternden Kriegsherrn, Frühkapitalisten und Finanzwirts Dr. Heinrich Faust in zwei Tragödien anschaulich macht, in denen der Umtriebige die gequälte, ausgebeutete Erde und ihre Himmel und Höllen zu bezwingen sucht, macht den Menschen leiden an einer »gefährlichen Immunschwäche« (Osten) und bringt ihn zur Selbstentfremdung. So krankt der hoch zivilisierte Mensch, schwankend zwischen »Übereilung und Versäumnis«, begleitet von Angststörungen, gejagt von Panikattacken, allesfressend, energieverschwendend und sorgenbelastet – Goethe erstellt die Diagnose und hat die Therapie.
Nur ein »übendes«, beständig sich selbst verbesserndes, für die Lehren der Vergangenheit aufmerksames Leben – hier treffen sich Osten und Peter Sloterdijk in seinem Großessay »Du musst dein Leben ändern« – sowie die »Idee des Reinen« (Goethe) »im Zeichen eines globalen Ethos« (Osten). In dieser pietätvollen Anschauung wiederum sind sich Goethe, der die Metamorphose und das »Stirb und Werde« für eine lebenskluge Erfindung erachtet, und Alexander von Humboldt, der die »Wechselwirkung« als Prinzip der Natur erkennt, nahe wie die zwei Dioskuren.
Manfred Osten, Die Welt, »ein großes Hospital« – Goethe und die Erziehung des Menschen zum »humanen Krankenwärter«, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, 160 Seiten, Klappenbroschur, 18 Euro