TEXT: STEFANIE STADEL
Große Formate, glänzende Oberflächen. Meisterhafte Präzision und Illusionen, die allenthalben ins Wanken geraten – Karin Kneffels Gemälde ziehen alle Blicke auf sich. Im Kölner Käthe Kollwitz-Museum zeigt die Malerin jetzt erstmals ausführlich den weniger spektakulären, privateren Part ihres Œuvres. Arbeiten auf Papier, die von jeher ihr Schaffen begleitet haben.
Er taumelt, rutscht, rudert hilflos mit den Armen in der Luft. Zwecklos. Die Balance ist längst verloren – und der Sturz unausweichlich. Bäuchlings sieht man den gut gekleideten Herrn mit Borsalino auf dem Kopf über den nassen Fußboden gleiten. Derweil die Unfallverursacherin im Vordergrund ungerührt hocken bleibt und ihre Arbeit weiterbringt. Es war die Putzfrau: Mit ihrem Lappen und dem gut gefüllten Eimer hat sie den Korridor in eine Rutschbahn verwandelt. Karin Kneffel hält den Vorfall 2014 in 15 Aquarellen filmreif fest. Ein Film stand auch Pate für ihre sogenannten »Fallstudien«: In der US-Komödie »Mein Freund Harvey« von 1950 ist es James Stewart, dem die Lache zum Verhängnis wird.
Nicht nur Hollywood-Stars gehören zu Kneffels Opfern. Mit ihren Wasser-Farben bringt die Malerin noch ganz andere Leute ins Schlingern. Und so kann man wohl davon ausgehen, dass sie den Namen der aktuellen Bildserie mit Hintersinn zum Motto ihrer Ausstellung im Käthe-Kollwitz-Museum machte. »Fallstudien«, unter diesem Titel vereint die Künstlerin in Köln rund 130 Arbeiten auf Papier – ganz überwiegend Aquarelle. Zwischen Schein und Sein, Realität und Illusion führen sie nicht zuletzt die Relativität der Wahrnehmung vor. Mit Blick auf spiegelnde Wasserflächen und beschlagene Fensterscheiben. Auf schräge Ausschnitte, auf verschachtelte Perspektiven läuft man immer wieder Gefahr, den Halt zu verlieren.
Wo heckt Kneffel all das aus, wo füllen sich ihre gefährlichen Farb-Pfützen? Gleich rechts hinter der Tür im großzügigen Düsseldorfer Altbau-Atelier hat sie sich ein ruhiges Eckchen eingerichtet. Auf dem Schreibtisch liegen aufgeklappte Aquarellkästen, und gleich daneben auf einem Stuhl steht Kneffels kleiner uralter Fernseher. Gern höre sie dem Nachtprogramm zu, sagt die Künstlerin. Wenn sie malt – oft bis zwei, drei Uhr – fühle sie sich mit dem laufenden Apparat an ihrer Seite nicht so allein. Hineinschauen kann sie natürlich nicht, denn das Malen mit dem oft nur wenige Haare feinen Pinsel erlaubt keine Zerstreuung. Zumal diese Aquarelle nichts von Studien haben, nichts von schnell hingeworfenen Ideen. Im Gegenteil, alles ist sorgfältig ausgearbeitet, wird in etlichen Farbschichten zur Perfektion getrieben.
Einige Beispiele ihrer Aquarellkunst hängen in Reihen an den Atelierwänden. Neben den »Fallstudien« auch eine Serie von Beichtstühlen. Kneffel hat das intime Geschehen in einer italienischen Kirche beobachtet und zunächst mit dem Zeichenstift skizziert, um es daheim mit allerlei geheimnisvollen Lichteffekten ins manchmal Überirdische zu entrücken. Dabei verhüllt sie oft mehr, als sie zeigt. Vom bußfertigen Gläubigen sind für gewöhnlich nicht mehr als die Füße zu sehen.
Obwohl die Aquarelle für sie immer schon dazugehörten, hat man bisher kaum etwas zu sehen bekommen von diesem Part des Œuvres. Viel präsenter sind die großen glänzenden Gemälde. Jene imposanten Äpfel, Kirschen, Weintrauben etwa, die in ihrer aufgeblasenen Makellosigkeit beinahe bedrohlich wirken. Oder auch die unheimlichen Interieurs mit ihrem virtuos gemalten Teppichflor und den auf Hochglanz polierten Fußböden, die aufs Eindrücklichste Kneffels falsche Wirklichkeit reflektieren.
Doch liegt es nicht zuerst an der Imposanz solcher Werke, an der stupenden Präzision der Oberflächen in Öl, dass die kleinen Arbeiten auf Papier bisher links liegen blieben. Schuld sind vielmehr die Künstlerin selbst und ihre Zurückhaltung. »In den Aquarellen zeigt sich eher meine private Herangehensweise.« Deshalb habe sie lange gar nicht in Erwägung gezogen, eine Ausstellung ausschließlich mit Arbeiten auf Papier zu machen, sagt Kneffel und nimmt Platz auf dem großen Sofa im überraschend aufgeräumten Atelier. Kein Geruch von frischer Farbe, nirgends ein verklebter Pinsel. Seit Wochen habe sie hier nicht mehr gemalt, bemerkt die Künstlerin. Zwei Ausstellungen in Spanien, die Professur in München, die Schau jetzt in Köln – da fehlte die Ruhe. Auch an diesem Vormittag geht es hin und her.
Überall verschwinden Bilder in Folie und Karton. Rund ein Viertel der Exponate für Köln schickt die Malerin aus ihrem eigenen Bestand ins Käthe Kollwitz-Museum. Darunter auch eine Gruppe von Aquarellen, die mit Gerhard Richters berühmter »Betty« umgehen. Zum Gemälde der sich umwendenden blonden Frau gesellen sich da drei Museumsbesucher, die das berühmte Porträt von allen Seiten zu ergründen suchen. Vielleicht würden sie »Betty« gerne ins Gesicht schauen. Keine Chance. Dem Betrachter von Kneffels Aquarell ergeht es nicht besser. Auch er sieht nur Rücken und Hinterköpfe – von »Betty« und von ihren drei neugierigen Betrachtern, die noch dazu hinter spiegelnden, beschlagenen oder verschmierten Fensterscheiben entrückt scheinen.
Eine verzwickte Konstruktion auf der Grenze zwischen Schein und Sein, Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Bild und Wirklichkeit. Nicht zuletzt ist es wohl auch eine Referenz an Kneffels Lehrer. Nach ihrem Literatur- und Philosophiestudium war die 1957 in Marl geborene Tochter einer Köchin und eines Fußballspielers mit Mitte zwanzig an die Kunstakademie nach Düsseldorf gewechselt, wo sie zunächst bei Johannes Brus, dann bei Norbert Tadeusz und schließlich bei Gerhard Richter studierte.
Die Malerei hatte damals einen schweren Stand. Zumal, wenn sie sich nicht »wild« gab. Video war en vogue an der Akademie und natürlich Fotografie. Während etwa Thomas Ruff nicht müde wurde, seine Kommilitonen in langen Porträtreihen abzulichten, suchte Kneffel ihr malerisches Fortkommen auf dem Bauernhof – in den Porträts von Schwein, Kuh oder Huhn. Schon damals rückte sie dabei so nah an das Heimische, das Vertraute heran, dass die gemalten Abbilder mitunter ins Unheimliche kippen.
Es folgten riesige Feuersbrünste in pastosen Farben, die allerdings nicht viel mehr Hitze ausstrahlen als jenes eiskalte Obst, das Kneffel seit Mitte der 90er Jahre in Szene setzte. Rote Backen, Tauperlen auf der glänzenden Schale, vollendet die Form, kein Wurmloch weit und breit – so sieht man etwa ihre Musteräpfel am Baum hängen und sich drängen. Ein Prachtexemplar neben dem anderen, da bleibt kaum mehr Platz für das tadellose Laub.
Damals habe sie das Thema Schönheit interessiert, so Kneffel. Was überhaupt ist schön? Diese hochpolierten Obstwunder zumindest sind es nicht – auch wenn oder gerade weil sie allen erdenklichen Schönheitsidealen entsprechen.
Tiere, Obst, Interieurs – in ihrem Werk der vergangenen Jahrzehnte hat sich Kneffel diverse, meist ganz traditionelle Sujets systematisch erschlossen. Und sie auf ganz eigene Weise neuinterpretiert. Dabei scheut sie bis heute keine Mühe: Eigenhändig spannt sie die riesigen Leinwände auf die Rahmen. Kneffel ist aufgestanden vom Sofa, um ein paar Pinsel vom Tisch zu holen. Stärke zwei bis maximal acht – dickere benutze sie fast nie. In mindestens drei Schichten legt die Künstlerin damit ihre Riesengemälde an, so viele braucht es, um jene malerische Präzision zu erreichen, die ihr so wichtig scheint. Wirtschaftlich ist diese Arbeitsweise natürlich nicht – immerhin investiert die Künstlerin einen ganzen Monat intensive Malarbeit in ein großes Gemälde. Zum Leidwesen der Galerien, denn mit ihrem knappen Output kann die Malerin bei weitem nicht die Nachfrage decken.
Und die Aquarelle, wann nimmt sie sich Zeit dafür? »Wenn ich an einem Punkt bin, wo ich nicht weiterweiß oder wo etwas abgeschlossen ist, greife ich oft zum Aquarellpinsel, um Dinge zu klären, um sie weiterzubringen«, sagt sie. »Oder vielleicht auch nur, wenn ich noch nicht mutig genug bin, mich wieder an ein großes Bild zu wagen.«
Auch ihre jüngste Werkgruppe umkreist die Künstlerin gleichzeitig in Öl und Aquarell, 2007 bereits hat sie damit angefangen. Anlass war die Vorbereitung ihrer Einzelausstellung in Haus Esters – eine jener Museumsvillen, die Ludwig Mies van der Rohe Ende der 1920er Jahre als Wohnhäuser für die Familien Esters und Lange in Krefeld geplant und erbaut hatte.
Kneffel zieht ein paar Bücher aus den Regalen und beginnt zu blättern. Hier und da findet sie alte Fotos abgebildet, die zurückschauen in die Wohnräume der dreißiger Jahre. Eben dieser Geschichte ist sie in recht aufwändigen Recherchen nachgegangen, um anschließend in ihren Bildern wieder Leben ins Haus zu zaubern. Distanz schaffen auch hier Scheiben und Tropfen, durch die man auf das wohnliche Innenleben schaut – wie ein Voyeur, der sich bei Regen um die Villa schleicht.
Man glaubt ihr gerne, wenn sie von den Komplikationen erzählt, die dermaßen komplexe Bildkonstrukte mit sich bringen. Soll man zuerst die Tropfen malen, dann das Dahinter. Oder ist es besser, mit dem Hintergrund zu beginnen, und sich schrittweise vorzuarbeiten? Solche Fragen sind immer wieder schwer zu klären. Hinzu kommt, dass der Voyeur vor dem Fenster immer nur eines sehen würde – die Tropfen, das Fenster, den Raum. Der Maler aber muss alles gleichzeitig, gleichwertig auf die Fläche bringen.
Mit den Lösungen all dieser Probleme erreicht Kneffel einen Höhepunkt in ihrem Schaffen – und in der Karriere. Seit 2012 findet sich ihr Name auf der Künstlerliste des amerikanischen Mega-Galeristen Larry Gagosian.
Die Künstlerin hängt diesen Erfolg allerdings nicht allzu hoch: Klar, sei es schön dort angekommen zu sein, aber nicht so existenziell wichtig. »Ich habe Jahrzhnte auch ohne Gagosian gelebt und meine Bilder gemalt. Und das ist die Hauptsache für mich, dass ich mein Ding machen und meine Bilder weiterdenken kann.«
Inzwischen hat sie dabei Haus Esters verlassen und ist mit ihren malerischen Recherchen nach nebenan ins Haus Lange umgezogen. Über dem Sofa in Kneffels Atelier hängt ein wandfüllendes Ölbild, das durchs Fenster in den einstigen Wohnraum der Familie schaut, wo einem wunderbare Werke aus der erlesenen Sammlung der Langes in beinahe unwirklichen Farben entgegenleuchten – Kirchner, Macke. Erst auf den zweiten Blick erkennt man rechts unten in der Ecke die kauernde Putzfrau. Und wird gewahr: Vorsicht Rutschgefahr!
»Karin Kneffel – Fallstudien. Arbeiten auf Papier«, bis 19. April 2015, Käthe Kollwitz-Museum, Köln; Tel.: 0221 / 2272899 www.kollwitz.de