Vertraute Verhältnisse. Es bleibt irgendwie in der Familie. Nach der Uraufführung von Yasmina Rezas »Gott des Gemetzels« Ende 2006 an Matthias Hartmanns Schauspielhaus Zürich folgt die deutsche Erstaufführung fünf Monate später am Bochumer Schauspielhaus. Hartmanns dortiger Nachfolger Elmar Goerden könnte langsam den Humor verlieren, hätte er nicht wenigstens zum zweiten Mal die Lacher auf seiner Seite. Das verdankt er Burghart Klaußner, der unter anderem auch in Zürich gastiert. In Bochum, wo er zur Zeit erfolgreich in Feydeaus »Floh im Ohr« den Chandebise bei Dieter Giesing spielt, erweckt der Regisseur Klaußner Rezas Basic Instinct im bürgerlichen (von Bernhard Siegl mehr skizziertem als eingerichtetem) Salon.Der elfjährige Ferdinand –je nach Sichtweise ein ganzer Kerl, Schläger oder Streber – ist Anlass für den Besuch seiner Eltern Annette und Alain Reille bei Véronique und Michel Houillé, den Eltern von Ferdinands Schulkamerad Bruno. Die Paare treffen sich zum Krisengipfel. Ferdinand hat zugelangt: Auf dem Pariser Square de L’Aspirant Dunant liegen zwei abgebrochene Schneidezähne Brunos. Weshalb in den Familien mehr als ein Nerv bloß liegt. Schadensregulierung und Wiedergutmachung lassen sich nicht versicherungstechnisch abwickeln, sondern verlangen nach Kommunikation, sittlichem Ernst, pädagogischer Reife. Und nach Beherrschung eventueller atavistischer Restregungen. Für Menschen, die guten Willens sind, doch wohl kein Problem. Schließlich regiert in der Welt der Yasmina Reza der Code Civil und nicht das Gesetz des Dschungels. Vorläufig.Rezas Konversationsstück erzählt nach allen Regeln der Kunst der Komödie nicht so sehr vom Rückfall in die Barbarei, als vielmehr davon, dass kein Schutzmechanismus wirkt, kein Transfer gelingt, nichts mehr gilt und funktioniert. Nicht Solidarität des Geschlechts und Identifikation mit dem Ehepartner. Nicht die Gediegenheit eines Haushalts, in dem sich normale Leute über das Blumengeschäft um die Ecke, ihren Job und ein Kuchenrezept austauschen. Nicht Kulturleistungen, namentlich Bacon und Kokoschka, die nur dazu taugen, vollgekotzt zu werden. Nicht soziales Engagement und politisch korrektes Verhalten, nicht die Rhetorik der Besorgnis und jedwede Verbindlichkeit. Vor allem nicht das Leben selbst.Man kann diesen Erkenntnisgewinn als gering erachten oder eine letzte große Wahrheit nennen. Dramatisch macht das wenig Unterschied. Zwar hat der Zuschauer schnell die sich steigernde Mechanik des Stücks durchschaut und fällt auf den Bluff bald nicht mehr herein, dass sich hier die Aufklärung über sich selbst aufklären könnte, aber das ändert nichts an der gewitzten Raffinesse der Konstruktion, die für alle Beteiligten in die elendigste Entblößung und Rum getränkte Aggression mündet.Während in Zürich Jürgen Gosch kalt, nonchalant und scharfsinnig von der Außenposition das Quartett mit unnachgiebiger Genauigkeit lenkt, begibt sich Coach Klaußner eher ins Getümmel. Er schraubt die Pointen eine Umdrehung weiter, forciert das Tempo, buchstabiert die Konfrontation aus, ohne sie schnöde zu zerlegen. Auch seine Inszenierung hat die Präzision, die das Stück braucht, um sich nicht auf Boulevard-Niveau abzusenken, und bändigt die vier bravourösen Entfesselungskünstler perfekt. Die Véronique der Imogen Kogge, gluckenhafte Mater Dolorosa des geschändeten Bruno, hütet wie eine Vestalin die Flamme der Humanität. Ulli Maier schaut von höherer Warte, als ihre Lackpumps es erlaubten, abschätzig herab auf ihre Ehe und ihren Ehemann und zückt mondän wie Modesty Blaise die Waffen der Frau. Felix Vörtler in der Rolle des Großhändlers Michel hält sein wonniges Gemütsmenschentum dosiert in der Reserve. Klaus Weiss klärt den Pharmaindustrie-Anwalt Alain Reille ab, legt ihn ins soignierte Fach und gibt selbst dem running gag mit dem Handy noch eine aasig diplomatische Note. Der private Bürgerkrieg changiert wie ein Kippbild. Die Fronten sind variabel, die Koalitionen wechseln. Jede Verschiebung im System des personalen Vierecks stellt nur Variationen in der Statik der Verhältnisse und des fortwährenden Ungenügens her, auf die man ebenso amüsiert wie auch eine Spur gelangweilt schaut, weil es deutlich keine Bewegung hin zu irgend etwas Stabilem und Gesichertem gibt. Das Kaltschnäuzige wie Warmherzige und Heißblütige sind keinen Sous wert. Weshalb das letzte Wort auch »Was weiß man schon.« heißt – das Credo in Rezas Unglaubensbekenntnis. Für Bochum ist es ein Segen. //
Gebändigt entfesselt
01. Jun. 2007