TEXT MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Liebende sind kopflos, drehen sich mit ihren Bekenntnissen im Kreise (in früheren Zeiten meist um die Nichterfüllung), neigen zu hemmungslosen Übertreibungen: »leben kann ich entweder nur ganz mit dir oder gar nicht, ja ich habe beschlossen in der Ferne so lange herum zu irren, bis ich in deine Arme fliegen kann, und mich ganz heymathlich bey dir nennen kann, meine Seele von dir umgeben in’s Reich der Geister schicken kann – ja leider muß es seyn – du wirst dich fassen um so mehr, da du meine Treue gegen dich kennst, nie eine andre kann mein Herz besizen, nie – nie ‒«.
Diese kopflose Mischung aus erotischer Aufwallung und der Sehnsucht nach dem Ankommen im »heymathlichen« Hafen einer bürgerlichen Ehe stammt von Ludwig van Beethoven, dem Mann mit der Wuschelmähne, der plattgedrückten Nasenpartie und dem auffallend dunklen Hautteint, kurz: vom populärsten Komponisten aller Zeiten. 1840 wurde sein »Brief an die unsterbliche Geliebte«, wie er nach einer Anrede in dem Schreiben allgemein genannt wird, in der Biografie seines Assistenten Anton Schindler erstmals veröffentlicht. Seitdem beschäftigte er Heerscharen von Musikforschern und Gartenlauben-Schmieranten gleichermaßen, und das aus mindestens zwei Gründen: Erstens öffnet er einen spektakulären Blick in das gequälte Seelenleben des schon stark ertaubten Komponisten; zweitens ist die Adressatin selbst unbekannt, denn Beethoven hütete sich, den Namen der Frau niederzuschreiben, die ihm »mein Engel, mein alles, mein ich« war.
Indizien wie das verwendete Briefpapier sprechen dafür, dass er das emphatische Liebesbekenntnis im Juli 1812 in Teplitz verfasst hat, einem der damals beliebten nordböhmischen Bäder, wo sich Beethoven wegen anhaltender Unterleibsschmerzen kurierte. Als heißeste Kandidatinnen für die Adressatin sind mittlerweile die Damen Josephine Brunsvik und Antonie Brentano, die Schwägerin von Clemens Brentano und Bettina von Arnim, ausgemacht worden ‒ beide verheiratete Frauen, deren Ehen zerbrochen waren.
Beethoven, ein Herzenströster? »Nun ja, er galt durchaus als Salonlöwe in seiner Bonner Zeit und war eine gesellschaftliche Erscheinung mit selbstbewusstem Auftreten.« Sagt der Musikwissenschaftler und Kulturmanager Markus Kiesel, seit vergangenem Jahr Leiter der Programmplanung beim Beethovenfest. »Aber es gibt eben keine Ehefrau oder ›definierte‹ Geliebte, er hatte auch keine eigenen Kinder, sondern hat später um die Vormundschaft für seinen Neffen Karl gestritten. Aber Beethoven war sicher kein Kostverächter, und der Bonner Hof war ja auch von rheinischer Lebensfreude geprägt.«
Mit dem Motto »Ferne Geliebte« hat sich das Beethovenfest jetzt im dritten Jahr der Intendantin Nike Wagner nach den dynamischen und politischen Schwerpunkten »Veränderungen« und »Revolutionen« etwas lyrischer ausgerichtet. Wobei Markus Kiesel nicht nur an der Chronique scandaleuse des Komponisten interessiert ist: »Das Thema ›Ferne Geliebte‹ führt auch ästhetisch in eine neue Innerlichkeit und ist damit auch ein Kontrast zum letzten Jahr, wo es um den aufgeklärten Revolutionär Beethoven ging. Jetzt fokussieren wir den frühen Romantiker, der mit dem Liebesthema spielt. Und dabei stellt sich fürs Beethovenfest immer auch die dramaturgische Frage: Wo kommt das her, und wo geht das hin?«
Und weil sich Kiesel eben vor allem als Dramaturg versteht, was ihn mit der Theater- und Literaturwissenschaftlerin Nike Wagner verbindet, hat man gemeinsam musikalische Aspekte um das romantische Motiv der Sehnsucht und Liebe gefunden. Im Zentrum steht Beethovens Liederzyklus von 1816, in dessen Titel »An die ferne Geliebte« Kiesel fast eine künstlerische Weiterdichtung des berühmten Briefes erkennt. »Das Lied ist ja eine genuin romantische, auch deutsche Gattung, die allerdings eher von Schubert oder Schumann entwickelt wurde. Dennoch hat Beethoven mit ›An die ferne Geliebte‹ den ersten Liederzyklus überhaupt komponiert und damit auch in dieser Gattung seine Duftmarke gesetzt. Wir werden den Zyklus in verschiedenen Versionen und Bearbeitungen hören ‒ in der Originalversion mit Matthias Goerne, aber auch in Bearbeitungen für Klavier von Franz Liszt und für Orchester von Felix Weingartner.« Ausstrahlungen also auf erzromantische Musiker, die Beethovens Lieder für Stimme und Klavier in ihr eigenes Medium verwandelt haben.
Ein Literaturgespräch mit der einstigen Hamburger Kultursenatorin Christina Weiss und eine von Hermann Beil kuratierte musikalisch-literarische Soiree sollen das Thema vertiefen, das schließlich zu einem Grundmotiv in der Musik wurde: Romantiker wie Johannes Brahms und Robert Schumann zitieren in ihren Werken Beethovens Lieder, um eigene Liebesbotschaften wie Brieftauben an ihre Angebeteten auszusenden. Selbst der frühe Film hat den verliebten Beethoven entdeckt: Im Stummfilm »Der Märtyrer seines Herzens« von 1917 umwirbt der junge Fritz Kortner als Beethoven die Gräfin Guicciardi, die allerdings als »unsterbliche Geliebte« nicht in Frage kommt: Sie weilte, als Beethoven den Brief schrieb, seit Längerem mit ihrem Ehemann in Neapel ‒ eine Ungenauigkeit, die man dem flackernden Machwerk voller Augenrollen und pathetischer Gesten noch am ehesten verzeihen wird.
Natürlich prägt das diesjährige Motto längst nicht alle Konzerte des Beethovenfestes, das erstmals aus der sanierungsbedürftigen Beethovenhalle in andere Lokalitäten wie das World Conference Center oder die Kreuzkirche ausquartiert wird. Wie jedes Jahr gibt es ein Education-Projekt mit der Telekom, ein Campus-Konzert mit der Deutschen Welle (Thema: Ukraine), viele Streichquartette und die Fortsetzung des Themas »Befreiungsoper« mit Luigi Dallapiccolas ungeheuer eindringlichem Einakter »Il prigioniero«. Aber schon beim Thema Orpheus, das von den Musiciens du Louvre mit Gluck, Haydn und Offenbach illustriert wird, ist man schon wieder beim Thema Liebe, Sehnsucht, Entfernung, Verlust. Es scheint ein Urthema zu sein, nicht nur eines der Romantik.
Beethovenfest Bonn, 8. September bis 1. Oktober 2017.