TEXT: STEFANIE STADEL
Kirchtürme neigen sich, Häuser stürzen ein, Archivalien werden begraben. Kosten explodieren und Bauzeiten ziehen sich immer weiter in die Länge. Man macht es den Kölnern nicht leicht, sich mit der teuren neuen Nord-Süd-Stadtbahn anzufreunden. Nun kommt auch noch der Dombaumeister mit seiner Sorge ob der Erschütterungen, die in der Kathedrale immer dann zu spüren seien, wenn eine Bahn durch den ersten, gerade eröffneten Tunnelabschnitt rollt.
Kaum etwas anderes als Negativschlagzeilen hat das gewaltige Nahverkehrsprojekt bisher provoziert. Umso beschwingter mag man sich auf jene ausnahmsweise einmal erfreulichen Neuigkeiten stürzen, die am Rande des Baugeschehens aus dem hiesigen Untergrund ans Tageslicht gefördert wurden. Und das sind eine ganze Menge: 2,5 Millionen Fundstücke zählten Archäologen, die vor und während der Bauarbeiten an der neuen Trasse unterwegs waren, um zu sichern, was zu sichern war.
VOM MÜLL ZUM KELLER
Beeindruckende Kostproben präsentiert jetzt – gleich neben dem vibrierenden Dom – das Römisch-Germanische Museum. Unter dem Titel »ZeitTunnel« wirft die didaktisch sehr gut aufbereitete Ausstellung dort Schlaglichter auf 2.000 Jahre Kölner Alltagsleben: Von der Mülldeponie der Römer führt der Weg über die Latrinen des Mittelalters bis in den Keller eines Wohnhauses, wo Bomben im Zweiten Weltkrieg einen Stapel Union-Briketts begruben.
Wahrlich fette Beute haben die Ausgräber in den vergangenen zehn Jahren gemacht – was allerdings kaum überrascht. In Köln ist der Boden bekanntlich gespickt mit Zeugnissen der reichen Vergangenheit. Jedem, der ihn schon einmal angekratzt hat, dürfte klar sein, mit was er hier rechnen kann. Deshalb ließ sich das Unternehmen auch schon im Voraus so gut planen.
Um die 100 Archäologen, Bauhistoriker, Techniker, Zeichner, Grabungshelfer standen für den bisher größten Eingriff in Kölns unterirdische Geschichte bereit und wurden vor allem dort aktiv, wo die neuen Bahnhöfe der Stadtbahn entstehen sollten. Sie arbeiteten sich bis zu 14 Meter in die Tiefe vor und beackerten eine Fläche, die vier Fußballfeldern entspricht. Dabei hätten sie manchmal, wie es heißt, mehr alte Scherben als Kies unter den Füßen gehabt.
JEDE MENGE AUSTERNSCHALEN
Besonders dicht war der Befund in der Altstadt, denn hier betrieben die Römer einst ihren Rheinhafen. Dieser Schauplatz des internationalen Handels diente gleichzeitig als gigantische Müllhalde, wie sich zeigte. Im ersten Jahrhundert nach Christus verschwand dort allerhand, was man nicht länger sehen oder riechen mochte. Gerade das macht diesen Ort für den Archäologen des 21. Jahrhunderts zur Fundgrube, die nicht nur unkomplizierte Lösungen des Abfall-Problems in der Antike vorführt, sondern auch beachtliche Neuigkeiten zum mitunter wohl recht luxuriösen Leben damals barg.
Da wären zum Beispiel jede Menge Austernschalen. Der römische Schlemmer hat sich die leicht verderbliche Köstlichkeit wohl über hunderte Kilometer von Atlantik und Nordsee kommen lassen. Damit nicht genug der Tafelfreuden: Wein aus Rhodos, Würzsoße aus Pompeji und grüne Oliven aus Südgallien bereicherten den Speiseplan des Gourmets. Davon künden in Köln die Scherben hunderter von Amphoren. Als Einwegverpackungen des Altertums waren sie nach dem Gebrauch zerschlagen und auch gleich im Hafen entsorgt worden. Im Vorfeld der Ausstellung kümmerten sich in Köln Spezialisten darum, die appetitlichen Aufschriften zu entschlüsseln.
Spektakulär auch die Entdeckungen gleich nebenan am Kurt-Hackenberg-Platz. Bereits bevor sie sich an die Arbeit machten, wussten die Archäologen, dass dort direkt unter dem Pflaster die römische Stadtmauer liegen musste. Überrascht waren sie dennoch, als sie auf die verblüffend gut erhaltene Holzverschalung des mächtigen Fundamentsockels stießen. Holzkundler konnten ihr erstmals genaue Daten zum heftig diskutierten Mauerbau entlocken: Nicht, wie oft vermutet, um 50 nach Christus ist das Riesenbauwerk demnach zu datieren, sondern rund vier Jahrzehnte später.
Auch über den Alltag des Kölners im Mittelalter können die U-Bahn-Funde einiges berichten. Vom Winterspaß auf dem zugefrorenen Rhein etwa, unter den Schuhen Rutschvorrichtungen, die aus Röhrenknochen von Schwein, Rind, Pferd oder Hirsch gefertigt wurden. Oder über das diffizile Handwerk des Kamm-Machers, der aus dem Gebein jede Zinke einzeln herausarbeiten musste. Das ging offenbar nicht selten daneben. Und so landete manch missglücktes Stück in der Grube, die man drei Meter unter der Kölner Bechergasse aushob.
Im Römisch-Germanischen Museum werden all diese, oft ziemlich bruchstückhaften, trotzdem vielsagenden Überreste nicht einfach in Vitrinen sortiert, sondern gekonnt inszeniert. Dazu greift die Schau immer wieder einzelne Funde oder zusammengehörige Komplexe heraus, zieht Vergleichsbeispiele heran, macht Alltagsgeschichten daraus.
So auch rund um den wohl sensationellsten in der Ausstellung dokumentierten Fang, den die Archäologen gleich um die Ecke, im Schatten des Doms, machten: 65.000 Bergkristalle brachte er zum Vorschein. Dazu grobe und feine Sandsteine, wie man sie zur Bearbeitung des kostbaren Materials benötigte. Kein Zweifel – es sind die Überreste einer Bergkristall-Werkstatt des Hochmittelalters. Und das Beste: Etwas Vergleichbares wurde bisher in Europa nicht entdeckt.
SCHNAPSBECHER IN DER LATRINE
Weiter in Richtung Gegenwart führt der Weg nach Süden an die Severinstraße in die Toilettenanlage der Johannesklause. Vom frühen 17. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde sie von 14 frommen Frauen benutzt, die in der Klause hausten. Zurückgezogen und nach den strengen Regeln des Heiligen Benedikt – so glaubte man bisher. Doch die Hinterlassenschaft in der Latrine enthüllt die wahre Geschichte: Feines Geschirr hob man dort aus, kostbare Weingläser. Auch lassen Tabakpfeifchen und Schnapsbecherchen darauf schließen, dass die Damen es nicht ganz so genau nahmen mit der gebotenen Enthaltsamkeit.
Erstaunliche Erkenntnisse. Die Archäologen freuen sich über den enormen Wissenszuwachs, den die U-Bahn-Ausgrabungen brachten und nach gründlicher Auswertung der Beute wohl noch weiter bringen werden. Auch wenn es den lebensfrohen Insassinnen der Johannesklause vielleicht lieber gewesen wäre, die Nachwelt hätte den Spaten stecken gelassen.
Ebenso wenig rühmlich wie die Reste der Klausnerinnen-Feste, dafür aber durchaus bezeichnend sind die Funde an der Bonner Straße: Unzählige Hufeisen und Nägel, die man dort ausbuddelte, erzählen von stecken gebliebenen Pferden und gebrochenen Wagenachsen, liefern so schlagende Beweise für die miserablen Straßenverhältnisse in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Auch damals lief also nicht alles glatt im Kölner Nahverkehr. Den Dom konnten solche Unzulänglichkeiten allerdings noch nicht erschüttern.
Bis 5. Mai 2013. Römisch-Germanisches Museum, Köln; Tel.: 0221/221-244 38. www.museenkoeln.de