Der Liftboy
Franz Kafka – Hotel occidental, Ramses
Der junge Karl Roßmann ist wegen eines unverschuldeten moralischen Fehltritts nach Amerika verbannt worden. Schon bei der Überfahrt und dann im Haus eines reichgewordenen Onkels vermochte er, obwohl ein ehrlicher und gutgläubiger Junge, es nicht, die Verhältnisse zu begreifen und sich ihnen angemessen aufzuführen. Erneut hinausgeworfen, war er mit den zwei Vagabunden Delamarche und Robinson herumgezogen, endlich aber im gigantisch großen Hotel occidental in der Stadt Ramses auf die freundliche Oberköchin gestoßen, die ihm eine Anstellung als Liftboy verschaffte. »Schon nach der ersten Woche sah Karl ein, daß er dem Dienst vollkommen gewachsen war.« Doch die Arbeit ist mehr als anstrengend, zwölf Stunden täglich, auch nachts. Karl saust zwischen den Stockwerken auf und ab.
Vergeblich sucht er im Schlafsaal der Liftjungen Erholung zu finden, wo zwischen den 40 Betten die allergrößte Unruhe herrscht. Ständig brennt das Licht. Karl ist unablässig müde, aber aus Dankbarkeit gegenüber der Oberköchin beklagt er sich nicht. Eines Nachts taucht Robinson auf, betrunken bettelt er Karl um Geld an und will nicht wieder weichen. Der gutmütige Junge will geben, was er hat, zum Dank erbricht sich Robinson in den Luftschacht. Eilends schleppt ihn Karl hinauf in den Schlafsaal. Noch bevor er an seinen Arbeitsplatz zurück gehastet ist, ereilt ihn das Verhängnis: Sein Vorgesetzter, der Oberkellner, hat alles bemerkt, unterzieht ihn einem demütigenden Verhör und entlässt ihn wegen Dienstvergehens auf der Stelle. Die Oberköchin ist tief enttäuscht, Karl gibt seine Livree ab und will aus dem Hotel schleichen. Doch der Oberportier, sein ärgster Feind, der Hüter über sämtliche Tore, lässt ihn nicht hinaus. | UDE
Franz Kafka: »Der Verschollene«, erhältlich in unterschiedlichen Ausgaben
Das Toilettenpapier
Bessing, Kracht, Nickel, v. Schönburg & v. Stuckrad-Barre – Hotel Adlon, Berlin
Es gibt weniger geeignete Orte als das Berliner Hotel Adlon, um über das nachzudenken, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die Hausdame trägt Donna Karen, im Foyer-Brunnen sprudelt das Wasser aus vier Metern Höhe über weiße Elefanten. An der Wand des Suite-Kaminzimmers stehen sandfarbene Ledersofas, darüber hängen gerahmte Bulgari-Foulards. »Die Besonderheit am Adlontoilettenpapier ist der Winkel, in dem das abgeknickte Ende der Toilettenpapierrolle mit der Adlon-Vignette fixiert ist«, sagt Benjamin von Stuckrad-Barre (silbernes Jackett von Hugo by Hugo Boss). Der entspreche nämlich dem der aufgedeckten Plumeaus.
Zusammen mit Joachim Bessing (Hemd von Richard James, nachts am Pool: hüftlanger Hausmantel von Joseph Tricot, darunter schwarze Badehose von Issey Miyake), Christian Kracht (Anzug von Ozwald Boateng, schläft nachts), Eckhart Nickel (Zegna-Hemd, nachts am Pool: Hausanzug von Derek Rose) und Alexander von Schönburg (?, nachts am Pool: seidener Morgenmantel mit blauem Paisley-Muster auf weinrotem Grund, Polohemd aus zitronengelber Ägyptischer Baumwolle) und einem Tonbandgerät (Revox) hatte sich Stuckrad-Barre im April 1999 zwei Tage in der Executive Suite im vierten Stock des Adlon mit Blick auf das Brandenburger Tor einquartiert, um gemeinsam ein »Sittenbild unserer Generation zu modellieren.« Und dem nähert sich das popkulturelle Quintett vergleichsweise an: »Die Volks- und Raiffeisenbank verhält sich zur Sparkasse wie Geha im Vergleich zu Pelikan.« Oder: Sushi ist das Nussbrot der 90er Jahre und Golfen das Mallorca des kleinen Mannes. Irgendwann, es ist schon sehr spät, klopft von Schönburg dann an die Holzwand des verschlossenen Hotel-Spas und sagt: »Klingt hohl. Seht ihr: Genau wie das Adlon ist die Welt, in der wir leben. Außen fein herausgeputzt, mit Goldrand, aufgehypt – dahinter hohl.« Und Nickel fragt: »Deiner Meinung und Vorstellung nach ist Schröder wie das Adlon, also die Neu-Berliner Republik, und Helmut Schmidt ist sozusagen Brenners Parkhotel in Baden-Baden, die alt elitär-luxus-versiffte Welt von gestern?« Und dann gehen sie nicht schwimmen. | ANK
Joachim Bessing: »Tristesse Royale«, als Taschenbuch bei List
Der Zimmernachbar
Hermann Hesse – Kurhotel, irgendwo
Gern nimmt die Literatur das Hotel als die Menschenwelt in der Nussschale, und diesem Kunstgriff schließt sich auch Hermann Hesse 1925 in seiner Erzählung »Kurgast« an. Jede Menschenwelt unterteilt sich in die verschiedensten soziologischen Kategorien; dem Introvertierten, Dünnhäuter und Übersensiblen aber nur in zwei: sich und die andern – die Lauten, Heftigen, Raumgreifenden, kurz: ihn Vernichtenden. So auch unserem Kurgast, der nach seiner Ankunft mit vorausgaloppierender Panik an die Auswahl seines Hotelzimmers geht: Der Kleiderschrank eine hölzerne Drohung, nächtens zu knarren, das Heizungsrohr eine metallene, rhythmisch zu knacken, die Zimmerdecke, jetzt noch unschuldig weiß und still, hält gewiss eine Kaskade dröhnender Schritte und Vibrationen vom Stockwerk darüber bereit. Und dann das Tor zur Hölle, das jedes Hotelzimmer besitzt: die Tür zum Nebenraum. Der Kurgast, der sich nach ein paar Seiten als der »Schriftsteller Hesse« vorstellt, probiert vier, fünf Zimmer, verliert sich in Angstfantasien, schilt sich mit Selbstzurechtweisungen und fügt sich schließlich in ein Schicksal, das er ohnehin nicht bestimmen kann.
Das Schicksal heißt Zimmer Nr. 65. Im Ganzen keine schlechte Wahl, hell und freundlich tapeziert, mit Aussicht auf Fluss und Weinberge. »Auf der einen Seite wohnte eine alte Dame, von der ich in der Tat nie etwas hörte. Auf der anderen Seite, in Nummer 64, aber wohnte der Holländer!« Der ist ein Mann von kräftiger Gesundheit und gedeihlichem Aussehen, er hat eine Frau, und mit der redet er – nur ein paar Stunden nicht, zwischen Mitternacht und sechs in der Früh. Den gewaltigen Rest des Tages findet Kurgast Hesses Leben sozusagen in 64 statt, mit Plaudern, Lachen, Toilettemachen, Besuchempfangen. Mit Gläserklirren und Stühlerücken, den Melodien des Gurgelns und dem Knarren der Betten. Was unserem tagsüber dem Schreibtisch verpflichteten Dichter Qual um Qual beschert. Nur notdürftig tröstet die Gewissheit, es sei unter gewissen Zeitumständen würdiger, psychopathisch zu leiden, als sich ihnen anzupassen. Irgendwann aber kommt der Hass. Der Hass auf den Holländer und seine biologische und soziale Überlegenheit. Der Hass auf ganz Holland! Es kann für den Hassenden nur eine Lösung geben: den andern auslöschen oder sich selbst. Erlösung aber verschafft am Ende eine andere Handlung: Der Schriftsteller macht den Feind zur Figur. Imaginiert ihn nach allen Kräften, stellt ihn sich als jungen Mann, als Knaben, dann als Alten vor, lässt ihn einen Schlaganfall erleiden und endlich verscheiden. Wobei er ihn fast lieb gewinnt. Der Spuk ist gebannt, der Schriftsteller kann wieder arbeiten und schlafen. Doch zu guter Letzt wird der Störenfried erneut zum Sieger: Er reist am nächsten Tag einfach ab. Und der Ruhebedürftige steht da mit seiner heroisch errungenen Unanfechtbarkeit – und hat keine Verwendung mehr für sie. | UDE
Hermann Hesse: »Der Kurgast«, als Taschenbuch bei Suhrkamp
Die Bruchbude
John von Düffel – Hotel Angst, Bordighera, Italien
Das Hotel Angst ist der untergegangene Traum einer Epoche – oder etwas rustikaler formuliert: »Die größte Bruchbude an der Riviera«. Vor hundert Jahren, zu seiner besten Zeit, hätte man auf den palmenüberschatteten Terrassen den deutschen Kaiser im Gespräch mit Moltke beobachten können, die Prinzen von Hohenzollern, Angehörige des britischen Empire – Fabrikanten, Aristokraten samt ihrem Gefolge aus Kindermädchen, Hauslehrern und Schrankkoffern. Ein prunkvoller, sechsstöckiger Kasten, benannt nach seinem Besitzer Adolf Angst, mit imperialer Fassade an der ligurischen Küste. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg feierten die oberen Zehntausend sich hier in rauschenden Ballnächten selbst: »Sie wussten schon damals, dass sie eigentlich nicht mehr existierten, sondern so etwas waren wie Gespenster zu Lebzeiten, die sich noch einmal versammelt hatten für einen letzten körperlosen Tanz im Spiegel des Verschwindens.«
Ein Jahrhundert später ist das Hotel Angst eine baufällige Ruine. Fenster und Dach sind kaputt und zerstört, die Treppen morsch, die kostbaren Fresken in der Empfangshalle bekritzelt und mitten im Ballsaal finden sich eine Feuerstelle und verrußte Stuckdecken. John von Düffels Erzählung »Hotel Angst« ist nach des Autors Lektüre eines Artikels im FAZ-Magazin vom 4. Juli 1986 entstanden. Das Angst existiert tatsächlich – und für von Düffel und seine literarischen Protagonisten, eine deutsche Familie im Sommerurlaub, wird es zum Sehnsuchtsort. Der Vater ist besessen von der Idee, das verfallen-morbide Hotel Angst wiederzueröffnen, sein Sohn kehrt als Erwachsener zurück nach Bordighera. Auch ihn lässt das Angst nicht los, und als er vor dem Gebäude steht, kneift er die Augen zusammen und wartet darauf, dass »die abgeblätterte Farbe zu einem Anstrich verschwimmt und die Mauerrisse sich wieder schließen. Doch nichts passiert.« | VKB
John von Düffel: »Hotel Angst«, als Taschenbuch bei dtv
Die Lebensform
Klaus Mann – Bedford Hotel, New York
Der Schriftsteller und aus der Emigration zurückgekehrte Hermann Kesten antwortete auf die Frage, was sein befreundeter Kollege Klaus Mann am Aufenthalt in Hotels geschätzt habe: das Unverbindliche. Klaus Mann besaß nie eine eigene Wohnung, seit er das Elternhaus in München verlassen hatte. Schon vor dem Exil bewohnte er Pensionen und Hotels, in Berlin, Amsterdam, Zürich, Paris, Wien, Prag, später dann in New York, wo er zum »Bedford-Habitué« an der 40. Straße wurde. In einem Aufsatz sendet er einen »Gruß an das zwölfhundertste Hotelzimmer« – »Heimat seit einer halben Stunde«. Das Fremdenzimmer (seltsamer Ausdruck für das Logis eines Gastes) wurde ihm zum Synonym für die unbehauste Existenz – konkret in der Situation der vor den Nazis über den Kontinent Europa Flüchtenden, im übertragenen Sinn als »Entwurzelungsneurose«.
In Hotels hat er seine Lover getroffen, wurde er vom FBI bespitzelt, hat er Texte zu Papier gebracht und Manuskripte redigiert, Bittbriefe geschrieben, mit Schwester Erika Pläne gemacht, sich Morphium gespritzt und seinem Leben ein Ende gesetzt: am 21. Mai 1949 in Cannes. Es sind keine Luxusherbergen, wie sie Gustav von Aschenbach am Lido Venedigs bezieht oder Felix Krull als Angestellter bereichert, sondern Örtlichkeiten einer aus den Fugen geratenen Welt. Zwischenstationen für die deutschen Ausgebürgerten von Curt Riess bis Billy Wilder, von Ernst Toller bis Brecht und Curt Bois auf dem Weg nach Hollywood, ins Ausbildungscamp der U.S.-Army oder in einen müden Freitod. In seinem Lebensbericht »Der Wendepunkt« reihen sich Hotelzimmer zum Wiederholungsmotiv. Jede dieser Unterkünfte, in die er seine persönliche Habe aus Lebensmut, politischer Depression, erotischer Frustration und existentieller Not deponierte, trägt einen gemeinsamen Namen: Hotel Solitude. | AWI
Klaus Mann: »Der Wendepunkt«, zusammen mit unbekannten Texten aus dem Nachlass erhältlich als Rowohlt-Taschenbuch
Das Kuriositätenkabinett
William Gibson – Cabinet, London
Das Buch im Vogelkäfig passt: »Englische Exzentriker« von Edith Sitwell. Hier könnten sie wohnen, ihre urbritischen Freaks. Zwischen ausgestopften Frettchen, Betten aus Walrosskiefern und Tapeten mit Insektenmotiven. Nicht, dass man Naturkundler sein müsste, um im Londoner Cabinet auf seine Kosten zu kommen. Das mysteriöse Hotel in William Gibsons Roman »Systemneustart« hat noch ganz andere Attraktionen. Da wäre, zum Beispiel, der »Profumo-Raum« mit der gelben Seidenchaiselongue, die – ebenfalls auf sehr britische Art – von Liebe in Zeiten des Kalten Krieges erzählt. Andere Details würden sich gut in einem Film von David Lynch machen. Was ist, zum Beispiel, mit den romantischen Landschaftsbildern im Flur, die von unsichtbaren Hotelangestellten jeden Morgen neu angeordnet werden (und die alle dieselbe Zierruine im Bild haben)? Selbst die Originalbauteile wirken surreal. Die antike Dusche in ihrem Zimmer erinnert Protagonistin Hollis Henry an die Zeitmaschine von H.G. Wells: »Vielleicht war sie schon in Betrieb gewesen, als er anfing, die Serie zu schreiben, aus der sich sein erster Roman entwickelte.« Der Fahrstuhl, ein klaustrophobischer Wandschrank mit Eisengitter, ist »der älteste, den sie jemals gesehen hatte, selbst in London«.
Geschichte und Geschichten verschwimmen im Cabinet. So wie sie das auch draußen tun, in der Millionenmetropole vor der Tür. Gibsons Faszination für London ist bekannt. In mancher Hinsicht ist das Cabinet eine Mini-Version der Metropole in »Die Differenz-Maschine«, Gibsons steampunk-Roman von 1991, in dem das britische Empire die Welt mit dampfgetriebenen Computern beherrscht. Bei aller Fantasie hat das Cabinet eine reale Vorlage – das historische Home House am Portman Square. Wer das Gebäude von innen sehen will, braucht allerdings gute Kontakte. Die Zimmer werden nur an Clubmitglieder vermietet. Über die Aufnahme entscheidet ein Komitee. Jahresgebühr 1.200 Pfund, Übernachtung nicht inbegriffen. | JUK
William Gibson: »Systemneustart«, Tropen Verlag, Stuttgart 2011, 487 S., 24,95 Euro
Die Rechnung
Knut Hamsun – Gästehaus »Kost & Logis für Reisende«, Oslo
»Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist«, so beginnt Knut Hamsuns erregend moderner Roman »Hunger« von 1890, eine einzige atemlose Rede der Verzweiflung. Der namenlose Ich-Erzähler besitzt nichts mehr, mit dem Schreiben von Zeitungstexten versucht er, sich über Wasser zu halten, doch eben sein wachsender Hunger beeinträchtigt seine Geisteskräfte und lässt die Fetzen Papier, die er beschreiben will, immer öfter leer. So gerät er tiefer und tiefer in den Mahlstrom aus Wahn und Schwäche, es kommt der Winter – der Roman spielt im heutigen Oslo –, da gewährt ihm ein gnädiger Redakteur einen Vorschuss. Der Erzähler kann die Straße verlassen und nimmt Quartier im Gästehaus »Kost & Logis für Reisende«. Eine Weile haben guter Vorsatz und Zuversicht die Oberhand, doch das Schreiben glückt nicht mehr.
Die Wochen vergehen, das Geld ebenso, da kommt die Wirtin mit der Rechnung. Der Erzähler vertröstet sie, bald sei er mit seinem Artikel fertig. Und weiß dabei, dass es für ihn keine Rettung gibt. Ein paar Stunden später, eben sind doch wieder ein paar Sätze aufs Papier getropft, klopft die Wirtin erneut: Sie habe einen neuen Gast, er müsse das Zimmer räumen. Heute Nacht könne er bei ihnen in der Stube schlafen. Und sie rafft seine Papiere zusammen. Im Quartier der Wirtsleute, einem einzigen Raum, hausen der Vater der Wirtin, ein halblahmer Greis, ihr schreiender Säugling sowie ihr Mann, ein Griesgram, der mit jedem, der herein kommt, Karten spielt. Nachts schläft der Erzähler auf dem Boden beim Ofen, tags hockt er frierend in der Diele, um auf seinen Knien zu schreiben. Der stumme Hass der Wirtsleute gegen den die Zeche schuldigen Gast wächst, das Durcheinander in der Stube wiederum macht das Schreiben und damit das Geldverdienen unmöglich. Als der Erzähler einmal schlichtend bei einem Streit eingreifen will, wenden sich alle gegen ihn. »Als ich schließlich in die Diele ging, um mich schlafen zu legen, kam die Madam mir nach (…) und sagte laut, während ihr großer schwangerer Bauch mir entgegenstrotzte: Das ist aber Ihre letzte Nacht hier, damit sie das wissen.« | UDE
Knut Hamsun: »Hunger«, erhältlich in verschiedenen Ausgaben