TEXT: STEFANIE STADEL
Man kennt ihn, jenen verwischten »Akt auf einer Treppe«, hat ihn vor Augen: den majestätischen Schritt hinab. Doch mit einem Mal ist fast alles verschwunden, was die nackte »Ema« so wertvoll, so erhaben erscheinen lässt. Umgekippt lehnt Gerhard Richters Schlüsselwerk im Ausstellungssaal und wartet. Vielleicht auf einen Platz an der Wand, vielleicht aber auch auf die Abreise zurück nach Köln. Genauso sah und fotografierte Louise Lawler das Gemälde 2002 im Museum of Modern Art. Mit ihrer Aufnahme macht sie einmal mehr klar, wie sehr Wirkung und Botschaft des Kunstwerks von dessen Umgebung abhängen. Und wie leicht seine Bedeutung sich wandeln, seine Aura verblassen kann.
Seit Jahrzehnten geht die US-Künstlerin mit ihrer Kamera eben solchen Phänomenen nach. Streift durch Museen, Depots und Sammlerwohnungen. Fotografiert vor allem bekannte Kunstwerke in ungewohnten Situationen oder Momenten – nimmt sie als Sachen, nicht als gehypte Kultobjekte ins Visier. Da wirkt etwa Warhols »Brillo Box« neben dem »Lounge Chair« von Charles Eames beinahe wie ein Beistelltisch und muss überdies noch in Konkurrenz treten zum knalligen Teppich in Frank-Stella-Design.
Lucio Fontanas Schnittbild findet Platz im Schatten neben einer gleißend weißen Gardine, deren ganz alltägliche Falten mit den künstlerischen Ritzen in der Leinwand korrespondieren. Und eines von On Kawaras kleinen Datumsbildern hängt über einer verlassenen Tafel mit benutzten Tellern, Gläsern, abgelegten Servietten, einem vollen Aschenbecher. Das Arrangement auf dem Tisch kommt einem Stillleben gleich, formuliert das im Datum angedeutete Thema der Vergänglichkeit auf seine Weise.
Etliche Beispiele für Lawlers inhaltlich spannende und fotografisch überaus delikate Bildkunst bringt Philipp Kaiser nun als Kurator in seiner deutschlandweit ersten umfassenden Werkschau der 1947 geborenen New Yorkerin zusammen. Alles dreht sich hier um die Spielregeln des Kunstbetriebs. Immer wieder geht es darum, wie Bedeutung entsteht. Auch deshalb fügt Lawler sich so gut in Kaisers grundlegende Neupräsentation der hauseigenen Sammlung, mit der er jetzt – ziemlich genau ein Jahr nach dem Amtsantritt im Museum Ludwig – beeindrucken kann.
EINIGES WEGGHÄNGT
Der neue Direktor hat die Zeit gut genutzt. Zum einen, um sich zu etablieren – inzwischen zweifelt wohl niemand mehr daran, dass es richtig war, den jungen Schweizer vom Museum of Contemporary Art in Los Angeles an die Spitze des Kölner Top-Museums zu holen. Zum anderen hat er das Jahr darauf verwendet, sich gründlich und gewinnbringend in der Sammlung des Ehepaars Ludwig umzusehen. Sie mit dem Blick des 21. Jahrhunderts und seinem besonderen Draht zu den wegweisenden Kunstströmungen der 1960er Jahre – allen voran zu Minimal und Concept Art – neu zu befragen.
Die Ergebnisse: Einiges hat Kaiser mutig weggehängt. Laute Publikumslieblinge wie Max Ernsts »Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind«. Salvador Dalí und seinen »Bahnhof von Perpignan« oder auch die skandalöse »große Nacht im Eimer« von Georg Baselitz sind vorübergehend verschwunden. Dafür holt der neue Direktor anderes hervor – bevorzugt Stücke, die schon lange nicht mehr zu sehen waren. Besonders erwähnenswert ist eine seit über 15 Jahren nicht gezeigte Installation von Barbara Kruger, die sich nun im sogenannten Heldensaal bildmächtig und tongewaltig ausbreitet – in aggressiven Textbotschaften, gesprochenen wie geschriebenen, handelt sie von Macht und vom Missbrauch der Medien.
Zudem eröffnet Kaiser bei seinen Umräumarbeiten überall neue Zusammenhänge. Richters »Ema – Akt auf einer Treppe« zum Beispiel tritt Yves Klein mit einem seiner berühmten Körperabdrücke in blau gegenüber – so öffnen sich mit einem Mal zwei ganz unterschiedliche Blicke auf das eine Thema des weiblichen Akts. Solche Begegnungen bringen Spannung ins Ausstellungsgeschehen. Auch im zweiten Obergeschoss, wo die aus dem Souterrain aufgestiegene Pop Art neuerdings ihre Bühne findet – und ein paar an-regende Gesprächspartner dazu.
EINIGES NEU GEHÄNGT
Jasper Johns muss sich dem Fahrrad-Rad des Ready-Made-Erfinders Marcel Duchamp stellen. Robert Rauschenbergs Combine Paintings bekommen es mit einer kleinen Collage von Kurt Schwitters zu tun. Und die großformatigen Comic-Adaptionen eines Roy Lichtenstein haben Besuch von Fernand Légers maschinenmäßig stilisierter »Landpartie«.
Die Sammlungsschau hat noch keinen Namen, sie ist »Not Yet Titled«. Und sie wird auch keinen bekommen. Damit will Kaiser den Übergangszustand seines Unternehmens unterstreichen. »Ich möchte nichts in Stein meißeln«, erklärt er. Stattdessen hebt der Kurator die »permanente Vorläufigkeit« der Kunstgeschichte hervor. Jede Generation habe ihre eigene Sicht auf Abläufe und Abhängigkeiten. Es kommt darauf an, wie und in welcher Umgebung man die Dinge sieht – ganz so wie in Lawlers Fotografien.
Und so könnte man Kaisers Sammlungsschau als Angebot begreifen, das nachvollziehbare Entwicklungen aufzeigt – von den 60ern bis heute. Auf der obersten Etage stehen dabei die Größen der Pop Art im Zentrum mit ihrer Aneignung des Alltags, ihrer Hinwendung zur Wirklichkeit über das Medienbild. Im Untergeschoss kommen dagegen Positionen zum Zuge, die mit dem Ort umgehen wie die Land Art. Die Prozesse verdeutlichen wie Hans Haacke mit einer »Condensation Wall«. Oder die politische Themen angehen – Allan Sekula etwa, wenn er Angestellte fotografiert, die nach einem langen Arbeitstag die Fabrik verlassen.
Zwischen diesen beiden Strängen im Keller und im zweiten Obergeschoss montiert Kaiser auf der ersten Etage ein »Scharnier«, das die europäische Moderne und die amerikanische Spätmoderne zusammenbringt. In der Sammlungstätigkeit der Ludwigs zeichnet sich der Übergang klar ab – vom Zentrum der Moderne, Paris, wo sich auch ihr früher Favorit Picasso umtat, nach New York, wo seit den 60ern die Musik spielte und die Ludwigs zu Fans der Pop-Art-Pioniere wurden. Vor diesem Hintergrund konfrontiert Kaiser den russischen Konstruktivismus mit der Minimal Art, den Surrealismus mit Jackson Pollock.
Natürlich alles nur vorübergehend und »Not Yet Titled«. Dieser Unverbindlichkeit steht ein recht konkreter Untertitel entgegen: »Neu und für immer im Museum Ludwig«. Zu lesen als Statement, das sich wohl auf Kaisers Neuerwerbungen bezieht, die nun auch erstmals in Köln zu sehen sind. Darunter Candida Höfers frühe Fotofolge »Türken in Deutschland« und eine Großprojektion des Land-Art-Protagonisten Michael Heizer, die einen Felsen aus Nevada eins zu eins an die Kölner Museumswand transportiert.
Werke die erworben wurden, um »für immer im Museum Ludwig« zu bleiben. Auch wenn das Geld mal knapp wird oder die Kunstgeschichte dem ein oder anderen Werk seine herausragende Bedeutung vorübergehend abspricht. Zwar könnten jüngste Begebenheiten in NRW-Museen daran zweifeln lassen – doch ist die Institution da, um zu bewahren. Damit der Kurator auch in Zukunft noch ins Depot steigen kann und dort genügend Material für neue Kunstgeschichten findet.
Museum Ludwig, Köln, bis 26. Januar 2014. Tel. 0221/221-26165. www.museum-ludwig.de