Unvergessen bleibt Ivo van Hoves exquisite Trilogie von Romanen des Niederländers Louis Couperus für die Ruhrtriennale, beginnend 2015 mit »Die stille Kraft« und sich fortsetzend mit »Die Dinge, die vorübergehen« und »Kleine Seelen«. Die Aufführungen wurden auch zur literarischen Entdeckung für das deutsche Publikum aus dem Zwischenraum von symbolischer Dichtung und realistischer Erzählung. Der Verfall von Familien und Lebensentwürfen, die Lebenslüge, das Scheitern finden darin Ausdruck. Die Kolonial-Erzählung von der »Stillen Kraft« hatte Van Hove im Salzlager der Kokerei Zollverein ganz in Dunst gehüllt. Über einem Bretter-Geviert versprühten Düsen Wasser, das in Güssen herabstürzte oder fein nieselte. Das schwül-feuchte Klima absorbierte die Energien. Es gab keine Ruhe, keine Intimität, alles lag zu Tage. Mit exakt präparierten Dialogen wurde die Essenz des Romans in seiner analytischen, erotischen und emotionalen Kraft gewahrt und ihm hohe Wirksamkeit zugetraut und gegeben.
Van Hove wird als Nachfolger der jetzigen Intendantin Barbara Frey ab 2024 für drei Jahre das NRW-Festival übernehmen. Und damit als bei weitem kein Unbekannter in der hiesigen Landschaft sein. Ähnlich wie zuvor Jürgen Flimm, Willy Decker und Johan Simons hat auch Ivo van Hove seine Visitenkarte als Regisseur mehrfach im Revier abgegeben, so dass sie zum Entrebillet für die Intendanz werden konnte.
Der gebürtige Belgier (Jahrgang 1958), der seit langem mit seinem Bühnenbildner-Partner Jan Versweyveld zusammenlebt, ist der vielleicht polyglotteste der bisherigen Intendanten, der von Amsterdam bis Berlin, London, Paris, Wien und New York engagiert wird und zudem bereits das Holland Festival (1998 bis 2004) geleitet hat. Wie Johan Simons, der übrigens soeben für drei weitere Jahre als Intendant des Schauspielhauses Bochum und damit bis 2026 verlängert wurde, ist er mit dem »artistischen Projekt« vertraut, nicht theaterhaft etablierte Orte zu bespielen, sondern sich aus dem Guckkasten und Stadttheater hinaus zu begeben.
Zur Kontinuität des seit zwei Jahrzehnten bestehenden Festivals in den ehemaligen Industrie-Hallen der Zechen und Kraftzentralen in Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck gehört der Austausch mit den holländisch-belgisch-flämischen Nachbarn. Beginnend mit dem Spiritus rector und Vordenker des Festivals, dem Opern-Neuerer Gerard Mortier aus Gent und Brüssel, der Johan Simons gleich in seiner ersten Saison vorstellte und ihn damit sozusagen zu seinem späteren Nachfolger aufbaute.
Damals schon, sagte Ivo van Hove bei seiner Vorstellung als vom Aufsichtsrat der Kultur Ruhr bestimmter designierter Intendant für das mit jährlich 16 Millionen Euro ausgestattete Ereignis, habe er Aufführungen besucht, habe das Festival »lieben« gelernt und später fünf Produktionen beigesteuert. Mit seiner Toneelgroep, dem Internationalen Theater Amsterdam, war er präsent. Auch ’nebenan’ zu den Ruhrfestspielen wurde er eingeladen, mit der intensiv verdichteten Inszenierung von Hanya Yanagiharas Bestseller-Roman »Ein wenig Leben«.
Van Hove schaut auf ein enormes Werk aus vier Jahrzehnten zurück, vielgestaltig, immer wieder auf Shakespeare zurückkommend, aber auch Tennessee Williams und Eugene O’Neill, Susan Sontag, Marguerite Duras, Molière und die antiken Dramatiker finden sich. Auffallend häufig sind filmische Stoffe von Antonioni, Bergman, Cassavetes, Pasolini, Visconti (überraschenderweise fehlt Fassbinder) sowie die Bearbeitung von »Brokeback Mountain« fürs Musiktheater, denn auch der Oper widmet er sich seit mehr als 20 Jahren. Für das Programm der Ruhrtriennale will er pro Saison jeweils eine eigene Inszenierung beisteuern.
Sein Ziel sei es, so van Hove, die Ruhrtriennale »international orientiert auszurichten als bestes Theater für so viele verschiedene und diverse Menschen wie möglich«. Die bevorzugt »extremen« Aufführungen sollen wiederum alle Genres umspannen und spartenübergreifend die von Mortier initiierten »Kreationen« fortsetzen, ergänzt um zeitgenössische Rock- und Popmusik, die das Musiktheater erweitern kann.
Inhaltlich möchte er »Vorschläge machen für die Welt von heute und morgen«. Der Bürger trage zum einen als Mitglied der Gesellschaft Verantwortung und folge zugleich dem Impuls, sich selbst zu bestimmen und seinen eigenen Wünschen zu leben, was in seinem massiven Ausdruck kaum mehr rückgängig zu machen sei. Bewegungen wie Black Lives Matter und MeToo würden immer mehr auch in die Kunst hineinwirken – und sollten es auch tun.
Eine weitere Konfliktlinie zeige sich darin, nicht nur mit Blick auf den Ukraine-Krieg, dass »Gewalt zu einer normalen Handlungsoption« geworden sei und die Demokratie und unser way of life enorm unter Druck gerieten. Vergessen werden dürfe gleichwohl nicht das utopische Potenzial: »Wir müssen uns auch ums Paradies kümmern«.
Existentielle Krisenmomente abzubilden und zu belichten, ist ein Grundthema van Hoves. Visuell Laborsituationen und dramaturgisch ambulant offene Situationen herzustellen, sind ein Modell seiner Arbeiten, die starke symbolische Setzungen kennen. Die Figuren kommentieren häufig ihre Rollen, stehen neben sich und schauen aus Abstand reflektiert auf ihr Spiel und Wesen. Dramatische Wirkung schafft bei ihm die musikalische Struktur. In Viscontis »Rocco und seine Brüder« etwa (ebenfalls bei der Ruhrtriennale vorgestellt) sind es Songs der Sixties, ein spätes Beethoven-Streichquartett und das Opus 5 von Anton Webern; außerdem erzeugten vier Kammermusiker an Mischpulten Elektroniksound, der sich ins apokalyptische Rauschen steigert.
Van Hove mit seinen klug durchdachten Konzepten ist ein intellektueller Ausforscher und Vergegenwärtiger, offen für den experimentellen Charakter der darstellenden Kunst. Und er kann breitenwirksam den Unterhaltungsanspruch erfüllen, wenn er etwa am Broadway arbeitet. Der »Tony«-Gewinner hat keine Scheu vor dem Genre Musical, hat den Knüller »Rent« und David Bowies »Lazarus« herausgebracht, hat Tony Kushners hollywoodeske Aids-Politrevue »Angels in America« inszeniert. Für ihn bestehe die Scheidung zwischen kommerziell und subventioniert nicht, nur eine solche zwischen gut und schlecht.