Man sieht diesem besonderen Museum an, dass es aufgrund eines Traums entstanden ist. Geträumt hat ihn die 1869 im heutigen Essen geborene Industriellentochter Helene Kröller-Müller Anfang des 20. Jahrhunderts – und erst kurz vor ihrem Tod wurde ein Stück davon Wirklichkeit. Wenn man heute das Kröller-Müller Museum mitten im Nationalpark De Hoge Veluwe besucht, das in seinem Herzen die zweitgrößte Van-Gogh-Sammlung der Welt zeigt, sollte man deshalb auch an diesen starken Menschen denken, der einen großen Teil seines privilegierten Lebens für diesen Traum gegeben hat.
Besonders am Kröller-Müller Museum ist schon die Anreise. Es ist nur durch die Eingänge des Nationalparks zu erreichen und auch wenn man vom nahe gelegensten in Otterlo bei Arnheim kommt, legt man noch zwei Kilometer durch unbebautes Grün, durch Heidelandschaften und Waldabschnitte zurück. Kauft man ein Parkticket, kann man sie mit dem Auto fahren – schöner ist aber, sich eines der kostenlosen, weißen Fahrräder zu schnappen, die im Park in sehr großer Zahl zur Verfügung stehen. Durchs weite Grün radelnd fahren die meisten Menschen ganz automatisch schon etwas runter, lassen die Hektik des Alltags hinter sich.
Das ist genau, wovon Helene Kröller-Müller 1915 geträumt hat, als ihre Idee für einen Museumsbau konkreter wurde. Ihr Mann hatte ein paar Jahre vorher ein Jagd- und Reitgebiet von gut 6000 Hektar gekauft und auf einem Bauernhof einen bescheidenen Sommersitz eingerichtet. Auf ihm gefällt es der Kunstsammlerin so gut, dass sie in der Nähe ein Museum errichten will. Sie ist überzeugt, dass Kunstbetrachtung in der Ruhe der Natur viel besser gelingt, als im Trubel der Städte. Aber fangen wir vorne an.
Helene Kröller-Müller wird 1869 in Horst geboren, das heute zu Essen gehört. Sie ist die Tochter eines Stahlindustriellen, der über sein Handelsunternehmen auch Geschäftsbeziehungen zu den Niederlanden pflegt. Helene Müller besucht Schulen in Düsseldorf und Brüssel, sie darf auf eigenen Wunsch eine längere Schulbildung genießen, als es damals für Frauen auch ihres Standes üblich war. Sie macht mehr Hausaufgaben, als sie muss, will selbst Lehrerin werden – was ihr nicht erlaubt wird. Sie interessiert sich für Philosophie und Kunst. 1888 heiratet sie Anton Kröller, den Sohn des Leiters des Rotterdamer Büros ihres Vaters. Sie hat wohl gespürt, dass an seiner Seite ein anderes Leben möglich sein wird, als das einer Hausfrau und Mutter.
Ihr Mann Anton wird nach dem Tod von Helenes Vater Leiter des Familienunternehmens und entwickelt es von den Niederlanden aus zu einem internationalen Megakonzern, der auf den Feldern Schifffahrt, Handel und dem Betrieb von Minen tätig ist. Helene nimmt Lehrstunden in Kunstbetrachtung beim Kunstpädagogen und -Kritiker Henricus Petrus Bremmer. Bald beginnt sie, einen Teil des großen Unternehmenskapitals dafür einzusetzen, selbst Kunstwerke anzukaufen. Zwischen 1907 und 1939 entsteht eine gewaltige Sammlung von rund 11.500 Objekten – viele Gemälde, aber auch Zeichnungen, Skulpturen, Keramik und Grafik. Vor allem van Gogh hat es ihr angetan und sie ist neben dem ebenfalls aus dem Ruhrgebiet stammenden Karl Ernst Osthaus eine der ersten, die sein Werk im großen Stil entdeckt und ankauft.
Wer wirklich Essentielles über die Frau erfahren möchte, die ihre erstaunliche Lebensleistung letztlich der Allgemeinheit zur Verfügung stellte, muss mit der niederländischen Historikerin Eva Rovers sprechen. Sie hat eine Biographie über Helene Kröller-Müller geschrieben – ein Projekt, dem ebenfalls eine außergewöhnliche Geschichte zugrunde liegt: »2006 wurde dem Museum eine Kiste mit Briefen überlassen«, erzählt sie. »Es waren 3400 Briefe aus der Feder Helene Kröller-Müllers, die sie hauptsächlich an Sam van Deventer geschrieben hat.«
Sam van Deventer war 20 Jahre jünger als die Kunstsammlerin und lernte sie kennen, als er sich im Unternehmen bewarb. Es wird angenommen, dass die beiden kein Liebespaar waren, dass ihre Beziehung nie eine sexuelle Ebene bekam. »Es gibt einen 25 Seiten langen Brief, in dem Helene Sam davon zu überzeugen versucht, dass sie kein Liebespaar sind oder sein können. Sie hat ihn als Seelenverwandten bezeichnet. Sie konnte sich mit ihm über Kunst und Literatur, Spiritualität und Philosophie austauschen, über alles, was sie bewegte.«
Eva Rovers bezeichnet es als sehr intensive Erfahrung, sich durch diese Masse an Briefen durchgearbeitet zu haben. »Sie hätte wahrscheinlich nicht gewollt, dass man sie liest. Aber das Museum hat ein unabhängiges wissenschaftlich-biographisches Projekt auf ihrer Grundlage in Auftrag gegeben, weil es vorher vor allem Gerüchte über ihr Leben gab und wenig Fakten.« Also bewarb sich die junge Historikerin als Doktorandin um dieses Projekt und bekam schließlich den Zuschlag.
Die Wissenschaftlerin, die auch Kunsthistorikerin ist, hat herausgearbeitet, dass die Motivation für den Aufbau einer Kunstsammlung schon in Helene Müllers Kindheit liegt und mit ihrem Verhältnis zu Religion zu tun hat. »Als sie getauft wurde, erschien es ihr, als ob sie damit eigentlich betrogen hätte. Sie trug die Philosophie Goethes in sich, war ein spiritueller, aber kein christlich-religiöser Mensch. Die Spiritualität, die sie in ihrem Leben suchte, fand sie in der Kunst und ganz besonders im Werk van Goghs.«
Tatsächlich ist es eine spirituelle Erfahrung, wenn man tiefer in den schönen Museumsbau von Henry van de Velde wandelt und auf die Werke Vincent van Goghs stößt. Gerade weil man glaubt, bereits alles über den Maler zu wissen, der seit über 100 Jahren – allerdings erst ab etwa zehn Jahren nach seinem Tod – zu den populärsten Künstlern der Welt gehört. Vor den späten Gemälden, die nur ein oder zwei Jahre vor seinem Tod entstanden sind, erkennt man die tiefe Einsicht, die dieser schon im Alter von 37 Jahren verstorbene Mensch gehabt haben muss. In eigentlich profanen Szenerien wie einer Landstraße in der Provence bei Nacht, an deren Rand eine Zypresse in den Himmel ragt, findet er das Heilige, eine alles verbindende Lebensenergie. Es kann einen in einen Strudel aus Gedanken und Empfindungen stürzen, diesem vibrierenden Bild zu begegnen – aus dem man aber ja immer wieder schnell heraus gerissen wird, weil sich eine Besucherin oder ein Besucher mit Smartphone in den Blick schiebt, die Selfies mit dem Gemälde machen möchten.
Spannend ist, im Museum auch Verbindungen innerhalb des Werkes van Goghs zu begegnen. Auch Zeichnungen und Vorstudien und frühe Meisterwerke aus seiner dunklen Periode sind dort ausgestellt. Etwa »Die Kartoffelesser« von 1885. Nur etwa vier Jahre liegen zwischen diesem Gemälde und der Landstraße in der Provence, aber sie zeigen einen Quantensprung künstlerischer Entwicklung: »Die Kartoffelesser«, deren um einen einfachen Tisch gruppierte Arbeiter-Gesellschaft aus verschiedenen Portraits zusammengesetzt sind, die sich auch im Kröller-Müller Museum finden, erinnert eher an Rembrandt. Es ist auch eine Sozialstudie, die Figuren schälen sich eher aus dem Schatten, als dass die Welt von innen heraus leuchtet.
Eva Rovers Biographie über Helene Kröller-Müller heißt auf Deutsch »Sammeln für die Ewigkeit«, weil ihr erklärtes Ziel war, nur Werke anzukaufen, die den Test der Zeit bestehen würden, die nicht Ausdruck einer Mode, sondern auch mit zeitlichem Abstand noch als große Kunst erkannt und anerkannt würden. Selbst über zwei Weltkriege und eine Wirtschaftskrise schafften sie und ihr Mann mit einigen Tricks, die Sammlung aufrechtzuerhalten. Irgendwann ging sie in eine Stiftung über. Der Impuls, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hatte auch damit zu tun, dass Menschen deutscher Herkunft nach dem Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden verständlicherweise nicht besonders gut angesehen waren. »Sie wollte der niederländischen Gesellschaft etwas zurückgeben, wollte zeigen: Nicht alle Deutschen sind schlecht«, sagt Eva Rovers.
Neben Gemälden van Goghs sind im Kröller-Müller Museum auch Werke von Pablo Picasso, Paul Signac, Georges Seurat oder Piet Mondrian zu sehen. Die Sammlerin kaufte vor allem Moderne Kunst von etwa 1880 bis 1935 an, aber auch einige ältere Werke, um Verbindungen aufzuzeigen. So sind etwa Höhepunkte wie Venus und Amor als Honigdieb von Lucas Cranach dem Älteren aus dem 16. Jahrhundert zu sehen.
Nach Helene Kröller-Müllers Tod im Jahr 1939, nachdem sie noch ein Jahr Gründungsdirektorin ihres Museums sein konnte, wurde der Hauptbau mehrmals erweitert. Die Neubauten erinnern ein wenig an das wunderschöne Museum Quadrat in Bottrop, ermöglichen mit großen Fenstern die Begegnung mit der umgebenden Natur des Nationalparks. Dazu passt auch die aktuelle Sonderausstellung »Den Wald vor lauter Bäumen«. Darin hat die Künstlerin Eija-Liisa Ahtila für eine großformatige Videoinstallation die Begegnung mit dem Nationalpark gesucht und eine Collage aus Waldnatur zur Kunst erklärt. Andy Holden macht in einem Zwiegespräch mit seinem biologisch interessierten Vater Vögel zu Künstlern. Und tatsächlich kann man sich den Nestbau des australischen Laubenvogels nicht anders erklären als mit einem kreativ-künstlerischen Impuls, als mit einem Sinn für Ästhetik, der dem des Menschen beeindruckend nahe kommt.
So wie die Natur als Künstlerin in den Museumsraum wirkt, wirkt das Museum mit seiner Sammlung in den Außenraum – und so lohnt es sich, mindestens einen Tag einzuplanen, um neben der Sammlung im Haus auch den tollen Skulpturengarten mit Werken Marta Pans oder Auguste Rodins kennenzulernen. Oder den Pavillon von Gerrit Rietveld, der die Aussage des Museums in einer Architektur ausdrückt: Man weiß nicht, wo das Gebäude anfängt und wo es aufhört, man ist als Betrachter nie ganz drinnen und nie ganz draußen. Eine von vielen irre spannenden Erfahrungen, die letztlich auf eine Industriellentochter aus dem Ruhrgebiet zurückgehen.
Die Sonderausstellung »Den Wald vor lauter Bäumen« läuft noch bis 15. September.
Die Ausstellung »Auf Sinnsuche« 5. Oktober 2024 – 6. April 2025) will Helene Kröller-Müllers Auseinandersetzung mit verschiedenen Künstler*innen, aber auch philosophischen und spirituellen Bewegungen in den Blick nehmen.
Eva Rovers Biographie »Sammeln für die Ewigkeit. Helene Kröller-Müller: die bedeutendste van Gogh-Sammlerin der Welt« ist auch auf Deutsch im Athena Verlag erschienen (472 Seiten, 29,50 Euro)