JESUS BOND JAGT DR. NO
»Der Meister und Margarita« von Simon McBurney und seinem »Complicite«
Als der englische Theatermacher Simon McBurney Mitte der 90er Jahre in Europa auftauchte, 1994 etwa auf der Bonner Biennale, wurde er begrüßt wie Wasser in der Wüste – so hat es der Autor Moritz Rinke einmal formuliert. Tatsächlich weckten McBurney und sein »Theatre de Complicite« beim durch Stadttheatertrockenheiten ausgedörrten Zuschauer Wahrnehmungsfreuden, von denen man zuvor gar nicht gewusst hatte, dass es sie gibt. So raffiniert und sinnenfroh, so heiter und weise, so unbelastet von Theorie und doch avanciert, so genau und spiellustig waren die Stücke der Engländer, dass man sich zurückversetzt fühlte in das große Staunen, das einen vielleicht als Kind bei »Peterchens Mondfahrt« verzaubert und verändert hatte. Wenn da, etwa in »Street of Crocodiles«, ein Haufen Stühle auf dem Kopf pantomimisch agierender Schauspieler zum wilden Wald wurde, ein paar aufklappende Regenschirme zur bedrohlichen Vogelschar, dann begriff man die Unbegreifbarkeit des Poetischen. Bei McBurney konnte es passieren, dass einem im Theater die Tränen kamen.
Danach hat McBurneys Truppe sich den Prosatexten John Bergers oder Daniil Charms’ angenommen – und den Dramen Bert Brechts: Nie zuvor hatte man einen so völlig entgipsten Klassiker gesehen. Nachdem eine Zeitlang wenig vom Londoner Magier zu hören war, haben er und die Seinen (die sich nur noch Complicite nennen) nun »Der Meister und Margarita« zum Bühnenleben erweckt, Michail Bulgakows Roman von 1940, in dem der Teufel im stalinistischen Moskau der 30er Jahre auftaucht und all die schäbigen Betrüger, Spekulanten und schlechten Schriftsteller nach den Regeln der Schwarzen Magie schädigt und blamiert. Das an skurrilen Episoden überreiche Geschehen ist genau das richtige für die Complicite’ler und ihre Bildstrudellust, in ihrer drei Stunden dauernden Inszenierung ist alles immerzu in rasender Bewegung, Projektionen flimmern, Figuren verschmelzen, zum Schluss steht sogar Jesus im Teufelskostüm auf der Bühne. Der Satan selbst – Sonnenbrille, Stehkragen, Lederhandschuhe, Metallgebiss und deutscher Akzent – wirkt wie ein 007-Bösewicht: From Russia with Love. | UDE
Aufführungen: 13. bis 16. Juni 2012.
FREIGELEGT
Zweimal Tschechow von Jürgen Gosch
Mehr Spielraum kann es nicht geben. Die Bühne von Johannes Schütz: einfach konturiert, oft ein leerer Kasten, mal lehmig braun wie für »Onkel Wanja«, mal anthrazitfarben wie in der »Möwe«, die Schauspieler darin aufgereiht, die Kleidung alltäglich, der Illusionsapparat bleibt ausgeschaltet. Alles liegt vor dem Auge des Betrachters: offen. Der Zuschauer kann tun, was der Regisseur auch tut: Dinge auf ihre Spielbarkeit überprüfen. Das ist das Ritual. Das ist das Geheimnis. Absolut nichts steht der Klarheit und Intensität im Weg. Die Schauspieler und ihre Figuren: müde bis zur Lähmung, bei konzentrierter Anspannung, heiterster Gelassenheit, höchster Reizbarkeit, extremster Energie und Schmerzempfindlichkeit. Constanze Becker, Meike Droste, Corinna Harfouch, Jens Harzer, Alexander Khuon, Ulrich Matthes und die anderen Virtuosen im Potenzverschleiß – wie sie sich und das Leben verfehlen, aus Angst, verwandelt in Apathie, Aggression, Verzweiflung oder Panik. Tschechows Stillleben erzählen da zugleich etwas über das Theater: enthüllen es, ohne es zu entzaubern, lassen es arm, schäbig und zum Gotterbarmen aussehen und bringen es zum Leuchten. Gosch war von ingeniöser Neugierde. Am liebsten beobachtete er Kinder auf dem Spielplatz. So funktioniert sein Theater des Instinkts und der Intelligenz. Etwas geschehen lassen, und die Zeit steht still, Menschen verhalten sich, wenn man sie lässt – bisweilen gnadenlos, wütend und grausam gleichgültig bis zur Brutalität.
Bis auf die Knochen frei gelegt und in frontaler Anschauung werden Körper, Seelen und Spielarten präpariert – kurioserweise unter dem Eindruck von Vorläufigkeit. Diese unendliche zarte und unendlich robuste Methode schafft Transparenz im Sinn völliger Durchsichtigkeit dessen, was an Abläufen zwischen den Schauspielern geschieht. Das reine Zur-Schau-Stellen reflektiert zugleich den Vorgang der Spiel-Fiktion. Damit wurden die Arbeiten Goschs stilprägend und zur Referenzgröße für die 1990er Jahre und die Anfangsjahre des 21. Jahrhunderts bis zu seinem frühen Tod 2009. Die letzten Gosch-Inszenierungen, die auf einem der Spielpläne von Düsseldorf und Köln bis Hannover, Hamburg, Zürich und Berlin stehen, sind die vom Deutschen Theater. Zweimal Tschechow. Hinter diese Radikalität gibt es kein Zurück. | AWI
Aufführungen: »Onkel Wanja« 21. & 22. Mai, »Die Möwe« 9. & 10. Juni 2012.
WIE ALLES VERGEHT
Tschechows »Kirschgarten« von Luk Perceval
Tschechow ist wie Shakespeare, man kann ihn immer inszenieren. Man sollte es auch. »Der Kirschgarten«, jenes leise Drama vom Verlust der Heimat und der Träume, der weiß blühenden Schönheit, die sich selbst genug ist, an die Welt des Nutzens und des Geldes (so eine Lesart), »Der Kirschgarten« also ist nicht zuletzt auch das Stück unserer Zeit. Doch der belgische Regisseur Luk Perceval, der Tschechows letztes Bühnenwerk nun zum zweiten Mal inszeniert (nach 2001 für Hannover nun fürs Hamburger Thalia Theater), geht nicht in die Falle wohlfeiler Aktualisierung. Die Heutigkeit, die er der 1904 uraufgeführten »Komödie« verleiht, ist anderer, atmosphärischer Natur. Im Raum schwebende, leis sich bewegende mondartige Lampen, minutenlang still in der Reihe dasitzende Schauspieler, durch viele Pausen unterbrochener, tröpfelnder Text erzeugen einen Zustand traumverlorener Verlangsamung; eine gelungene Umsetzung des Umstands, dass der »Kirschgarten«, mehr noch als die davor entstandenen Stücke Tschechows, das Verrinnen der Zeit selbst zum Thema hat, die nicht zu fassende Gegenwart und die übermächtige Erinnerung.
Bisweilen fühlt man sich in dieser Inszenierung an das Tanztheater Pina Bauschs erinnert, denn Perceval lässt die Figuren ausführlich tanzen, was über ihr Innenleben mindestens so viel erzählt wie der Text (der – in der Übersetzung von Thomas Brasch – auf 100 Minuten stark eingestrichen ist). Große Schauspieler sind in diesem Gastspiel aus Hamburg zu sehen, so Barbara Nüsse als Gutsherrin Ranewskaja, Matthias Leja als Jascha, Wolf-Dietrich Sprenger als Ranjewskajas Bruder Leonid oder Tilo Werner als Kaufmann Lopachin. | UDE
Aufführungen: 16. bis 18. Mai 2012.
Wie schon in den vergangenen Jahren ist auch bei den diesjährigen Ruhrfestspielen »Fringe« das Festival im Festival: zwölf ausgefallene Projekte der freien Theaterszene, ausgewählt aus 120 Bewerbungen. Zu sehen ist Fußtheater (!) aus Deutschland, pantomimisches Körpertheater aus Großbritannien (»Shutterland«), T.r.a.s.h.-Tanz-Theater aus den Niederlanden, Clownstheater aus Belgien (»Artisto«), Akrobatik von »Doble Mandoble«, ein Liederabend mit »Die Mädchen« u.a.m. Was passiert, wenn sich ein Yoga-Jünger aus Deutschland, eine russische Sängerin und ein Amerikaner in einem indischen Bus treffen? Compagnie Laroque aus Österreich mit ihrem Nonsense-Tanz zeigen es. Zu erleben open air sowie im neuen Kuppelzelt.
PASSIONSSPIEL
Patrice Chéreau mit Dostojewskis »Großinquisitor«
»Alles war Schauspiel, war reine, vom Schmerz bejahte und erhöhte Macht.« Schreibt Ernst Jünger. Vielleicht ein Vorwort für das Werk von Patrice Chéreau, Frankreichs Großkünstler des Theaters, der Oper, des Films. Der Regisseur des Bayreuther Jahrhundert-»Rings«, der Intendant des Théâtre des Amandiers in Nanterre in den 1980-er Jahren, Filmautor und Bühnen-Legende wird in einem Solo auftreten: mit dem »Großinquisitor«-Kapitel aus Dostojewskis »Die Brüder Karamasow«.
Das Nachtstück erzählt von jenen Dingen, die Chéreau seit jeher beschäftigen: Einsamkeit und Verwundbarkeit, das Schweigen, das Wagnis des Sagens und die Zumutung der Freiheit. »Er«, Christus, erscheint in Sevilla Spaniens oberstem Kirchenfürsten, der das Schwert vertritt und die Freiheit für den Menschen verneint. Der Gottessohn ist ein Störfaktor im weltlichen Gefüge. Der Schädling für die römisch katholische Staatslehre muss weg. Jesus aber triumphiert stumm über den greisen Kardinal, der ihn gehen lässt und erkennen muss, was Oscar Wildes biblische Salome so formuliert: »Größer als das Geheimnis des Todes ist das Geheimnis der Liebe.«
»Augen, Körper, Sex – sind die schönsten Dinge des Lebens«, bekennt Chéreau. Auf der Leinwand des Kinos, das in näherem Bezug »zum richtigen Leben« für ihn steht als das Theater, gleicht diese Dreiheit dem Wechsel von der Großaufnahme zur Totale. »Ich war schon immer selbst die Kamera«, sagt der 1944 geborene Chéreau von sich und beschreibt damit seinen Blick-Extremismus.
Der Körper und seine Biologie sind in Chéreaus Arbeiten sichtbare Zeichen seelischer Zustände. »Körper in Räumen, die sprechen«, das sei sein Handwerk. Fassbar in Inszenierungen von Koltès, Genet, Mozart, Marivaux, Botho Strauß oder Jon Fosse. Zuletzt im Louvre, wo er Fosses »Traum im Herbst« mit seinem Lieblings-Darsteller Pascal Gregory und Valéria Bruni Tedeschi zu Blickachsen und auf die Semantik der Bewegungen verdichtete, als hätten die ihn umgebenden Tizians, Courbets brutale Nacktheit und Géricaults »Floß der Medusa« die Atmosphäre noch gesteigert.
Chéreaus Bildertheater und seine beschleunigten Körper können ungeheure Sinnlichkeit, Fragilität und rohe physische Gewalt ausdrücken: Man denke an die Blut ausschwitzende Messe seiner »Bartholomäusnacht«; den rituellen Totentanz des »L’homme blessé«; an das Schlachtfeld des Begehrens in der 2003 für die Ruhrtriennale entstandenen »Phädra«; an den Film »Intimicy«, der skandalösen Zerreißprobe eines Paars als Studie von Inbesitznahme. In seinem Mut zum Ergriffen-Sein und Pathos der Persönlichkeit erreichen Chéreaus Passionsspiele die Intensität von Bergman und von Wagners »Tristan«, den er natürlich inszeniert hat. Bei ihm ist der Körper die letzte Bastion der Freiheit. | AWI
Einmaliges Gastspiel: 19. Mai 2012.
DER UNENDLICHE HORIZONT
Tolstois »Krieg und Frieden«
»Krieg, Frieden, Russland zwischen 1805 und 1813, seine Gesellschaft, seine Angst, seine unheimliche Ruhe, seine Bauern, seine Soldaten, Kaufleute, sein listiges Zögern gegenüber Napoleon, … der wahnwitzig genug war, diesem unendlichen Horizont entgegenzumarschieren.« So fasst Heinrich Böll den gewaltigen Roman zusammen. Historisch realistisch im Panorama und mit Anteilnahme für die Geschicke dreier Adelsfamilien, breitet der souveräne Autor das Geschehen in aller Breite und unerschöpflicher Gelassenheit aus, als wisse er mehr über die objektive Unverrückbarkeit der Dinge, als der Eroberer aus dem Westen (»das nichtigste Werkzeug der Geschichte«), dem es um Frankreichs und seine Gloire und eine neue europäische Ordnung zu tun ist. Der Weltgeist ist hier auf Seiten des slawisch-christlichen Homers, Lew Tolstoi.
»Krieg und Frieden« wechselt die Perspektive zwischen Petersburger Soireen, Landleben, Salon-Konversation, philosophischen Exkursen, militärischen Strategien und Schlachten wie der von Austerlitz und Borodino, dem in Flammen lodernden Moskau, der Niederlage der Grande Armée durch Kutusow und den Liebes- und Ehewirren der Adligen Pierre und Andrej, Lisa, Marja und Natascha, den Kuragins und den Rostows.
Noch ein Hartmann nimmt sich des Werks an, nachdem es Matthias Hartmann gerade am Wiener Burgtheater als work in progress offen legte. Nun Sebastian Hartmann aus Leipzig, der Stadt der Völkerschlacht vom Oktober 1813, in der sich die versammelten kontinentalen Truppen gegen Bonaparte formierten. Der Regisseur spürt in dem Roman »ein unausgesprochenes Wissen, dass es so nicht mehr weiter geht, niemand mehr geschützt sein wird in dem Gehäuse seiner kleinen privaten Existenz«. Hartmann, 1968 geboren und seit 2008 Intendant in seiner Heimatstadt Leipzig, ist in seinen gern effektvollen, sich an Ideen verausgabenden Aufführungen ein Spezialist für zerfallende Welten, mal von familiärem Zuschnitt (»Pension Schöller«, »Paris, Texas«, »Fanny und Alexander«) oder als gesamtgesellschaftlicher Befund (»Zauberberg«, »Kirschgarten«). Hier geht er aufs Ganze. Hat schon einmal Neo Rauch mit einer seiner Gemälde-Allegorien die Ausstattung befruchtet, ist es nun Tilo Baumgärtel, ebenfalls Vertreter der Neuen Leipziger Schule, mit seinen surreal apokalyptischen Visionen der Moderne. | AWI
Aufführungen: 10. bis 14. Mai 2012.
Ruhrfestspiele: 1. Mai bis 16. Juni 2012; www.ruhrfestspiele.de