Dass große Kunst eher in großen Städten gedeiht, Experimente die Metropole benötigen, ist richtig und hat Gründe. So, wie es Ausnahmen gibt: Donaueschingen etwa ist eine Kleinstadt, Kassel war alles andere als ein Zentrum künstlerischer Avantgarde. Mit Münster verband man immer eine gewisse altdeutsche Friedlichkeit, bis 1977 die erste stadtraumfüllende Skulpturenausstellung die westfälischen Gemüter erhitzte und Deutschlands Kunstfreunde enthusiasmierte. »Skulptur.
Projekte« findet seitdem alle zehn Jahre statt und hat das Klima am Aasee nachhaltig durchlüftet. Bewegter, weltoffener ist Münster auch durch eine andere Institution geworden, die seit genau 20 Jahren, und zwar kontinuierlich, die kommunizierenden Röhren der Stadt mit Frischwasser versorgt: das »Pumpenhaus «. Ende des 19. Jahrhunderts als veritable Pumpstation erbaut, verwandelte sich der auf den ersten Blick wie ein Wohnhaus wirkende Klinkerbau in der Gartenstraße im Jahre 1985 in ein Theater: Hinter schmaler Haustür und engem Flur, der sich nach ein paar Schritten jedoch in ein geräumiges Foyer weitet, öffnet sich ein überraschend großer Saal, in dem bis zu 170 Zuschauer Platz und – bei flexibler Bestuhlung – relativ große Produktionen Raum finden können.
Etwa 200 Mal pro Jahr wird hier gespielt.Und zwar vorrangig das weniger Gängige, das Schwierige, Experimentelle, auch mal Waghalsige. Das den Mut zur ästhetischen Zuspitzung und zum Scheitern hat. Das »Pumpenhaus « am nördlichen Rand der Münsteraner Innenstadt ist ein sogenanntes freies Theater, eines der ganz wenigen in Nordrhein-Westfalen, in dem sich dieser Begriff mit erster Qualität verbindet. Das dänische Odin-Teatret, die japanischen Ensembles Dump Type und Molecular, VA Wölfls Neuer Tanz, die flämischen Gruppen Stan, Dito-Dito und Oud Huis Stekelbees, Jan Decorte, Thorsten Lensing, Raimund Hoghe – legendär gewordene Namen aus dem Schauspiel- und Tanztheaterbereich hatten im Pumpenhaus oft ihren ersten Auftritt in Deutschland überhaupt und machten und machen seitdem immer wieder hier Station.
Dieser Erfolg war dem Haus in die Wiege gelegt. Die »Theaterinitiative Münster« (TIM), eine Gruppe von 15 theaterbegeisterten, selbstverwirklichungsbesessenen und studentenbewegten jungen Leuten, die 1985 das leer stehende Maschinenhaus von der Stadt zum Theaterspielen haben wollten, segelte mit ihrem Vorhaben zwar im Windschatten der damals hoch angesagten Soziokultur, hatte aber von Anfang an im Grunde nur vor, Theater zu spielen; wenn auch selbstbestimmt, körper betont und damit fern vom damals noch flächendeckend brav sprechtheatralisch ausgerichteten, bürokratisch strukturierten Stadttheaterbetrieb.
Die Stadt (CDU) spielte mit, das Land NRW (SPD) zahlte den Umbau, die ersten Produktionen im Pumpenhaus weckten offenbar einen Nerv in der verschlafenen Universitätsstadt. Da die TIM zwar der aus heutiger Sicht engen, damals durchaus üblichen Frei-Theater-Ästhetik folgte, von Anfang an aber mit Gästen nicht zuletzt aus dem Ausland zusammenarbeitete, blies durchs Pumpenhaus stets der Wind. Und sorgte für die geistige Fahrt, die Ende der 90er Jahre nötig war, um der Bühne zu einer neuen, zeitgemäßeren Existenz zu verhelfen.
Denn nach fast 15 Jahren war das Konzept der TIM kaputt: »Getriebeschaden«, diagnostiziert Ludger Schnieder von heute aus. Der Schauspieler war bei der Gründung des Pumpenhauses 30 Jahre alt, aufgrund einer Hauptrolle in Adolf Winkelmanns Film »Abfahrer« zu einer gewissen Berühmtheit gekommen, aber bald aus dem Schauspielerberuf wieder ausgestiegen. Im Kollektiv der TIM war er der Hauptorganisator, führte vermutlich die meisten Schaltvorgänge im 15-rädrigen TIM-Getriebe aus: »Wenn man dauernd mit 15 Leuten zusammensitzt und überlegt, wie das Jahr finanziell gestaltet werden kann, wie das und das inszeniert werden sollte, wer was putzt, wie die Toiletten gestrichen werden, wer die Programme verteilt und so weiter – dann geht das nur eine bestimmte Zeit lang.« Dann führt das auf die Dauer zur »Selbstlahmlegung durch ständige Einigung auf kleinstem gemeinsamen Nenner« – bei Leitungsfragen, aber auch im Ästhetischen. Zudem: Auch der größte Enthusiasmus ist irgendwann am Ende. Vor allem wenn die Enthusiasten jahrelang von der Hand in den Mund leben.
Und auch jede künstlerische Selbstverwirklichung läuft irgendwann ins Leere oder in die entschiedene Professionalisierung. Das Ende der TIM 1999 aber war der Anfang des neuen Pumpenhauses, dessen organisatorische Basis eine gemeinnützige GmbH ist; Gesellschafter wurde die Stadt Münster, Geschäftsführer Ludger Schnieder. Weiterhin eine Art Ensemble vorzuhalten, davon verabschiedete man sich, der neue Arbeitsauftrag lautete: »qualifizierte Produktionsvorhaben qualifiziert auszustatten.« Das sieht nun so aus: Ein vierköpfiges, Pumpenhaus-unabhängiges Kuratorium schlägt jährlich diejenigen Theaterproduktionen vor, die in den Genuss der städtischen Fördergelder von insgesamt 200.000 Euro im Jahr kommen. Mit dem Geld erhalten die entsprechenden Theatergruppen das Recht zur Probe und Aufführung ihrer (insgesamt jährlich 7-12) Produktionen im Pumpenhaus sowie 80 Prozent der Einnahmen – »das ist«, sagt Schnieder, »im Verhältnis zu anderen NRW-Städten eine paradiesische Situation.« Glückliches, großzügiges Münster! Das allerdings sein Geld auch nur an in der Stadt ansässige oder dieser sonstwie außerordentlich verbundene Theatergruppen gibt. Doch damit nicht genug. Zusätzlich bekommt das Pumpenhaus jedes Jahr um die 70.000 Euro für Gastspiele, also für diejenigen Ereignisse, die das Münsteraner Haus in der Szene berühmt gemacht haben. Also für die Nase, die Schnieder – »bei den Gastspielen bin ich freier Intendant!« – in den letzten 20 Jahren bewies. Ein Wahrnehmungsorgan, das der Szene-Impresario mit organisatorisch geschickten Händen kombiniert, die fleißig kreative neue Theatergruppen heranziehen sowie an den für das freie Theater immer wichtiger werdenden Netzwerken stricken. So existiert eine feste Zusammenarbeit mit dem Düsseldorfer FFT sowie dem Bonner fringe ensemble. So ist in Münster eine Theaterszene herangewachsen, die weit größeren Städten im Land gut anstünde: die Gruppen Phoenix 5 und Redart, der kantige Theatermacher Thorsten Lensing oder das preisgekrönte Jugendtheater Cactus.
Zirka ein Fünftel des Pumpenhaus-Programms ist Jugendtheater. Aber auch sonst – im Pumpenhaus merkt man nichts von der Generationenkrise im Theater: Der Durchschnitt der jährlich zirka 15.000 Zuschauer liegt vielleicht bei 30 Jahren.
So macht Schnieder, anders als die meisten Intendanten der Stadttheater, einen zufriedenen Eindruck. Er klagt nicht. Er wünscht sich lediglich vom Kulturstaatssekretär Unterstützung beim Aufbau einer NRW-Produktionskooperative, deren gemeinsame Theater-»Ereignisse, aber nicht Events« das Land jenseits des Stadttheaterangebots ermuntern könnten.Letzteres ist derzeit sehr matt. Erneuerung kommt oft von den Rändern. //