Menschen, die für die Literatur brennen – wenn man sie trifft, dann erkennt man sie sofort. An der Art und Weise, wie sie über Bücher reden, sich an Wörtern, an Geschichten erfreuen. Genau so jemand ist Andrea Reinecke. Als Kulturschaffende tut sie so viel für ihre Heimatstadt Schwerte, dass es schwer ist, ihren Beruf in einem Wort zusammenzufassen. Theoretisch passen würde: Kulturvermittlerin. Aber praktisch klingt das viel zu spröde für jemanden wie sie. Sie selbst sagt über sich, eine »Frau fürs Schräge« zu sein. Denn Reinecke bringt wilden Geist in die sonst manchmal angestaubte Bücherwelt.
Etwas versteckt in der Altstadt liegt das Fachwerkgebäude des Wuckenhofs aus dem 19. Jahrhundert. Die Schwerter Frühlingssonne scheint, ein Hahn kräht und Andrea Reinecke winkt aus ihrem »Lesefenster«. Viele Jahre allerdings stand das alte Haus leer. Bis Reinecke mit einer Horde schreibwütiger Grundschulkinder herkam und es mit Kunst und Kultur füllte. Sie habe damals die Schreibgruppe »Ruhrstadtkinder« der Rohrmeisterei geleitet und nach einem Ort für eine Pop-Up-Werkstatt gesucht: »Ich fragte einfach die Stadt, ob wir uns im Winter trotz fehlender Heizung in Rollkragenpullis hierhersetzen und Texte an die Wände schreiben dürfen.« Seitdem bespielt sie den Wuckenhof mit literarischen Aktionen. Eine davon ist das Lesefenster, das während der Corona-Pandemie entstand: »Ich habe gemerkt, dass viele Leute am Wuckenhof vorbeispazierten, weil sie an die frische Luft mussten. Irgendwann habe ich ein Fenster geöffnet und laut rausgelesen.«
Angefangen hat alles mit Mark Twains Kinderbuchklassiker »Die Abenteuer des Tom Sawyer«. An drei Tagen in der Woche wurde gelesen. Spaziergänger*innen kamen vorbei und blieben stehen, irgendwann sprach sich das Lesefenster herum. Mittlerweile ist es eine Institution in Schwerte. Viele Künstler*innen der Gegend waren schon zu Gast – von Extrabreit-Sänger Kai Havaii über die Regisseurin Felicity Whitmore bis zum Schriftsteller Martin Simons. Aus einer Lesekiste kann das Publikum aber auch zur Spontanlektüre greifen und selbst mitmachen: »Viele Lesemäuse lesen Zuhause in ihrer Kuschelecke mit Lichterketten, aber hier laut herauszulesen, ist etwas Besonderes – so einfach kann die Welt sein!«, findet Reinecke. In den kommenden Sommerferien wird das Lesefenster jeden Donnerstag um 18 Uhr bespielt. Dafür werden noch Autor*innen gesucht. »Fluffig« sollte der Lesestoff sein, »nicht zu intellektuell«. Reinecke wolle der Literaturszene die Schwere nehmen, sie inklusiver machen. Wer mitmachen möchte (gerne auch in anderen Sprachen), darf sich bei ihr melden. So auch Menschen, die ein Leseerlebnis am Fenster buchen wollen: Gruppen können sich anmelden, um zum Beispiel nach einem Ruhrspaziergang eine Geschichte am Lesefenster zu hören. »Fenster auf, Buchstaben raus und die Abendsonne einsammeln«, beschreibt Reinecke das Erlebnis auf dem Hof.
»Fenster auf, Buchstaben raus und die Abendsonne einsammeln.«
Andrea Reinecke über das Lesefenster im Schwerter Wuckenhof
Die »Fluffigkeit« scheint sich durch Reineckes gesamte Arbeit zu ziehen. Anstatt sich komplizierte Konzepte auszudenken, legt sie einfach los. Erst im vergangenen Jahr stellte sie im Wuckenhof erfolgreich »Die hässlichsten Trinkhallen im Pott« von Peter Hesse aus. Eigentlich hatte der Journalist die Kioske nur auf seinem Instagram-Account gepostet und zweifelte – man könne doch keine Kunstausstellung daraus machen! Reinecke hat den Blick für das Humorvolle, das Unkomplizierte und Gemeinschaftliche – schließlich hat jedes Kind des Ruhrgebiets Budenerinnerungen und eigene Kioskgeschichten. Bis in die Tagesschau hat es die Ausstellung im Wuckenhof schließlich geschafft, die abends mit Flaschenbier am Kofferraum statt mit Sektflöten begossen wurde. Ein Beispiel dafür, dass unkonventionelle Kulturarbeit belohnt wird.
Inzwischen wird der Wuckenhof unter dem Dach des Kultur- und Weiterbildungsbetriebs organisiert, in Zukunft werden hier auch VHS-Kurse stattfinden. Zurzeit läuft die Ausstellung »Geschichte wird vor Ort gemacht«. Sie würdigt Carl Münkel, der 1888 als erster Fotograf nach Schwerte kam. Wer mag, kann nicht nur seine Originale anschauen, sondern auch digital und mit 3D-Brillen ins 19. Jahrhundert abtauchen. Reinecke ist wichtig, dass auch diese Ausstellung einen Werkstattcharakter für Kinder hat. Denn vor allem für sie sei sie eine wichtige Lobby, eine »Herbergsmama mit Drachenblut«, wie sie selbst sagt. Schließlich waren es die Kinder, die die Türen des Wuckenhofs wieder aufgemacht und einfach angefangen haben. »Als damals mein Workshop mit den Ruhrstadtkindern vorbei war, hatte ich plötzlich Briefe von ihnen im Briefkasten«, erzählt sie, »in denen stand, dass sie so gerne weiterschreiben wollen«. Also lud sie die Kinder kurzerhand in ihr eigenes Wohnzimmer ein: »Kinder, die gerne lesen oder Geschichten erfinden, sind oft für sich alleine. Wir haben uns ein Logo gemacht, Teezeremonien abgehalten und geschrieben. Irgendwann hatte ich fünf Schreibgruppen zeitgleich und mein Haus ist vor Manuskripten explodiert. Dann sind wir in den Wuckenhof gezogen.«
In den Sommerferien organisiert Andrea Reinecke hier nach wie vor einen Sommerleseclub. Was die Kinder lesen, dürfen sie selbst entscheiden – von Abenteuer- über Fußballgeschichten bis zu Witzen. Die Schwerterin gibt ihre Bücherleidenschaft an die junge Generation weiter. Eine Leidenschaft, die sie selbst bereits früh entdeckt hat. Als Kind aus einem bildungsfernen Haushalt war die Bücherei für sie der »Mega-Ort«. Nach einem Volontariat im Harenberg Verlag leitete sie das Magazin buch aktuell, studierte dann Kunstgeschichte und Philosophie. Als »Pannekaukenfrau« (eine Schwerter Spezialität) schrieb sie Kolumnen für und über »ihre Hood Schwerte«, bevor sie in die dritte Klasse ihrer Tochter spazierte und der Lehrerin vorschlug: »Lassen Sie uns doch mit den Kindern einen Krimi schreiben.«
Kurze Wege gehen und Ideen unkompliziert umsetzen – das ist ihre Devise. Aber auch die erwachsenen Lesefans sollen in Schwerte natürlich nicht zu kurz kommen. Neben dem Lesefenster leitet Reinecke die Projekte #schwerteliest und #schwerteschreibt. Ein Programm, das sich ein ganzes Jahr lang mit Aktionen von Salonkultur bis Outdoorausstellung einer literarischen Stimme widmet. 2023 drehte sich alles um die britische Schriftstellerin Agatha Christie. Um wen es ab diesem Herbst gehen wird, ist noch geheim. Aber eins ist klar: Mit der »Pannekaukenfrau« wird es sicherlich nicht langweilig: »Fürs Schräge bin ich zuständig. In Schwerte munkelt man dann immer: Was die da wohl schon wieder macht?«