TEXT: GUIDO FISCHER
Je älter Jordi Savall wird, desto neugieriger und produktiver scheint er zu sein. Kein Jahr vergeht, in dem der 73-Jährige als Dirigent, Ensembleleiter oder Solist auf der Viola da Gamba nicht mehrere Aufnahmen einspielt. Immer findet sich darunter eine musikalische Abenteuerroute in Gegenden und Epochen, die bisher eher für Weltmusik-Experten und weniger für Alte Musik-Spezialisten interessant schienen. Von Savall gibt es etwa akustische Städteporträts von Jerusalem und Istanbul. Das armenische Musikerbe hat ihn beschäftigt. Sogar auf die Spuren des spanischen Missionars Francisco Javier, der sich vor fünfhundert Jahren bis nach Japan und China durchschlug, begab sich der gebürtige Katalane.
Musikalisch ist Savall also weit herumgekommen, wobei er nach jedem Projekt nur noch fester davon überzeugt war, dass das Abendland kein Monopol auf Meisterwerke besitzt. Daher kann er sich genauso in die chinesische Pentatonik fallen lassen wie etwa in Bachs h-Moll-Messe. Den Klang der orientalischen Kniegeige Rebab empfindet er so faszinierend wie das wunderschöne Edelmaß, das ein Barock-Monsieur wie Marin Marais in seinen Gambenstücken kultiviert hat.
Die musikalischen Brückenschläge, bei denen jede Klangsprache gleichwohl ihre Identität behält, haben Savall mehr als nur die obligatorischen Schallplattenpreise eingebracht. So wurde er 2008 von der UNESCO zum »Artist of Peace« geadelt und von der EU in den diplomatischen Dienst berufen als Botschafter für interkulturellen Dialog. Die Musik, so Savall, sei »die spirituellste und universellste Kunst, weil man mit ihr in eine Tiefe gelangt, die von keiner Ideologie berührt« werde.
Sein Credo wird im Rahmen der Residence mit musikalischem Leben gefüllt, während der Savall die Essener Philharmonie eine Saison lang (in vier Konzerten) bespielt. Er präsentiert zusammen mit dem Ensemble Hespèrion XXI, das er 1974 mit seiner inzwischen verstorbenen Frau, der Sopranistin Montserrat Figueras gegründet hatte, kontrapunktische Streicherwerke von Dowland bis Bach. Musikalische Dialoge stehen bei den Programmen »Orient – Occident« und »Foliás antiguas & Criollas« auf dem Programm. Weil Savall besonders für die Freigeister und Wagemutigen der Menschheitsgeschichte etwas übrig hat, widmet er sich nach seinen Klangbiografien über die gottesfürchtige Freiheitskämpferin Jeanne d’Arc und den Spanier Don Quixote dem Humanisten Erasmus von Rotterdam. Für dessen Forderung, sich der eigenen Vernunft als Instrument der Erkenntnis und des Handelns bewusst zu werden, zog Erasmus zwar nicht in den Kampf. Doch brachte er mit seinem hintergründig-humorvollen Büchlein »Lob der Torheit« die Kirche auf die Barrikaden.
An den aufgeklärten, freidenkenden Visionär erinnert Jordi Savall mit dem musikliterarischen Abend »Erasmus: Lob der Torheit«, bei dem auch Texte des Engländers Thomas Morus und von Martin Luther rezitiert werden. Zwischen den Stationen aus Leben und Wirken erklingen Gesänge etwa der franko-flämischen Großmeister Guillaume Dufay und Josquin des Prés sowie Instrumentalstücke aus Spanien oder dem Osmanischen Reich. Wer sich intensiver mit der Welt des Humanisten einlassen will, hat dazu dank des CD-Label-Besitzers Savall Gelegenheit. Das Erasmus-Projekt ist in einem über 600 Seiten starken CD-Buch erschienen, das mit seinen Essays und Abbildungen eine editorische Großtat ist.
»Erasmus: Lob der Torheit« Jordi Savall, Hespèrion XXI, La Capella Reial de Catalunya, div. Solisten; 12. Oktober 2014 Philharmonie Essen. www.philharmonie-essen.de