Bilder – immer wieder geht es im Ruhrgebiet um Bilder, vor allem um die Bilder in den Köpfen: Wie sieht man uns? Wie sehen wir uns selbst? Wie möchten wir, dass man uns sieht? Schon immer standen dabei fotografische Abbildungen der Region im Vordergrund, weil man sie für besonders geeignet hält, die Bilder in den Köpfen – schönes Ruhrgebiet, dreckiges Ruhrgebiet – zu beeinflussen.
Und gern werden Fotografen und ihre Arbeit instrumentalisiert, um alte Klischees zu pflegen oder neue zu produzieren. Nicht zuletzt deshalb ist das »Pixelprojekt Ruhrgebiet « entstanden, eine »digitale Sammlung fotografischer Positionen als regionales Gedächtnis « und ein neuartiger Versuch freier Fotografen, sich vom Appetenzverhalten der Redakteure und Marketingstrategen zu emanzipieren.
Initiator des Projekts ist Peter Liedtke, freier Fotograf aus Herne. Er hat das Ruhrgebiet vor zwanzig Jahren zu seinem Hauptthema gemacht und als einer der ersten die Ästhetik der alten Industriestandorte erkannt. Die IBA Emscherpark war für ihn »ein Geschenk des Himmels«, sagt er, denn sie machte sein Thema zum Leitmotiv: »Industriekultur«.
Liedtke hatte gut zu tun, und seine Fotografien des illuminierten Landschaftsparks Nord in Duisburg, der Zeche Zollverein oder der Halden-Bramme in Essen wurden zu Marken- Zeichen des flugs so etikettierten »neuen Ruhrgebiets«. Ein zweischneidiger Erfolg. Fotostrecken mit diesen, mit ähnlichen und mit nachempfundenen Bildern zogen durch alle Magazine – ad nauseam.
Der Fotograf wurde die Bilder-Geister, die er und einige andere gerufen hatten, nicht mehr los. Die Vermarkter des Ruhrgebiets konnten nicht genug davon kriegen. Und wie viele seiner Kollegen fühlte Liedtke sich bei der redaktionellen Auswahl seiner Fotos und ihrer Präsentation in Bildbänden an die Seite gedrängt und ausgeschlossen, nicht zuletzt bei den Publikationen des Kommunalverbands Ruhrgebiet. Angenehmer fand er den Umgang mit Kuratoren, doch nach Ausstellungen verschwinden die Bilder eben wieder ins Archiv und aus dem Blick der Öffentlichkeit. Frei verlegte und nach eigenen Wünschen gestaltete Bildbände waren kein Ausweg, denn »da muss man ja noch Geld mitbringen«. Ein Problem, so überlegte Liedtke, für viele Fotografen, die sich das Ruhrgebiet zum Thema genommen hatten.
Damals, vor fünf Jahren, arbeitete Liedtke an seiner eigenen Internet-Präsentation. So kam er auf das Pixelprojekt: eine Online-Galerie, in der freie Fotografen ganze Serien von Bildern zeigen können – wie in einer Ausstellung, aber auf Dauer; wie in einem gediegenen Bildband, aber ohne die finanziellen Fußangeln. Im Landes-Kulturministerium und in der Emschergenossenschaft fand Liedtke Sponsoren. 2003 sammelte er 900 Bilder von gut 30 Fotografen. Im März 2004 wurde eine Auswahl dieser Bilder im Gelsenkirchener Wissenschaftspark ausgestellt; gleichzeitig wurde die neue Website freigeschaltet: www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de. 2004 und 2005 wählte die Jury neue Bildserien aus der wachsenden Zahl von Einsendungen, die dann wieder real im Wissenschaftspark ausgestellt und digital in die Website integriert wurden.
Die aktuelle Ausstellung zeigt 42 neue Serien von 38 Fotografen; auf der Website sind jetzt 2500 Fotografien von 95 Fotografen in 122 Serien versammelt. »Pixel« klingt so, aber das Projekt vereint nicht nur digital entstandene Bilder, und Affinität zu Computern wird von den beteiligten Fotografen nicht verlangt. Aber weil die Fotos anders nun mal nicht ins Internet zu bringen sind, muss auch der Freund klassischster Fotografie mit Leica und Schwarzweißfilm seine Bilder irgendwie digitalisieren lassen und der Jury auf elektronischem Wege schicken. Davon abgesehen, kostet es nichts, ins Pixelprojekt aufgenommen zu werden, es bringt aber auch unmittelbar nichts ein.
2500 Bilder – das klingt nicht dramatisch, würde aber schon mehrere dickleibige Bildbände füllen. Fotos von der ruhrgebietstypischen Industrie nehmen einen breiten Raum ein, ebenso Bilder der Ruhrgebietsmenschen zwischen Industriekulisse, Arbeitersiedlung und Freizeit am Kanal. Der Reiz und das Verdienst von Pixelprojekt liegt zunehmend darin, dass die stilistische Bandbreite, dass Veränderung und Kontinuität bei der Abbildung dieser klassischen Revierthemen dokumentiert wird. Das Spektrum reicht von der 1965 entstandenen Schwarzweiß-Reportage »Made in Germany« des Magnum-Fotografen Leonard Freed und der 55 Jahre umspannenden Serie »Unser Fritz und anderswo« des 80- jährigen Gelsenkircheners Werner Köntopp über Manfred Vollmers Dokumentation der großen Arbeitskämpfe an der Ruhr bis hin zu Arbeiten Jüngerer, die Neues zeigen oder Altes neu zu sehen versuchen: Pascal Amos Rest etwa zeigt farbenprächtige Rituale im Hammer Hindu-Tempel (»Tanzen für Shiva «), Kay Berthold (»Phoenix – ne pas de- Foto: Angelika Grossmann, Serie »Das Ich« Foto: Klaus Baumers, Serie »Teds im Ruhrgebiet« monter«), und Michael Kunze (»Die O-Töne des Quartier Borsigplatz«) arbeiten mit kalkulierter Unschärfe, Tania Reinicke (»Bauten der Boomjahre«, »Invisible Landscapes«) mit Farbverfremdungen; Jens Sundheim und Bernhard Reuß (»Der Reisende«) spielen mit der pixeligen Anmutung von Webcam-Aufnahmen.
Vieles hat man schon anderswo gesehen, wenn auch nicht im Zusammenhang der Serie; manches wird zum ersten Mal gezeigt, wie Michael Neuhaus’ Bilder von der »Neuen Mitte Oberhausen«. Seine Dokumentation vom Abriss der Industrieanlagen und vom Neubau der »Centro«-Mall war zwar eine Auftragsarbeit, sagt Peter Liedtke, habe dann aber nicht mehr zur schönen neuen Einkaufswelt gepasst und sei im Archiv verschwunden.
Liedtke selbst ist mit seinen bekannten, »schönen« Arbeiten vertreten (»Skulptur Emscherpark«), aber auch mit »Zwischenwelten «: betont »kunstlos« fotografierte Un- Orte, wie es den Vermarktern des Ruhrgebiets nur Stöhnen entlockt, allenfalls ein »Ja, das gibt es auch, aber …« Zweifellos treibt Pixelprojekt das Medium Internet an seine Grenzen. Sophia Simons’ im Wissenschaftszentrum gezeigte, großformatige Nahaufnahmen aus verlassenen Industriehallen etwa verlieren auf dem Bildschirm ihre regelrecht haptische Qualität völlig.
Auch die anderen Bilder bieten am heimischen Computer nur einen Abglanz ihres Potenzials, zumal die Auflösung im Interesse eines schnellen Zugriffs reduziert werden musste. Und je umfassender das Projekt wird, desto mehr kommt beim umständlichen Hin- und Herklicken der Wunsch auf, stattdessen bedrucktes Papier zu blättern. Klassisches Problem elektronischer Datensammlungen. Dennoch: Wenn man sich Zeit nimmt am Computer, ist die Pixel-Reise durchs Revier ein spannendes, konkurrenzlos ausführliches – und billiges Unterfangen.
Der endlosen Debatte darüber, wie ein Fotograf das Ruhrgebiet zeigen soll, sind die Macher des Pixelprojekts indes nicht entgangen. Manche Kollegen, die nicht beteiligt sind, finden den gebotenen Querschnitt künstlerisch zu konventionell; sie argwöhnen, dass die – durchaus fachkundig besetzte – Jury sich doch von Rücksichten auf Politik und Ruhrgebietsvermarkter beeinflussen lasse.
Die oft unterstellte Nähe zum Regionalverband, früher Kommunalverband Ruhrgebiet hat der Initiator schon beim Start seines Unternehmens drastisch bestritten: »Wir betreiben hier keine KVR-Schönfärberei.« Bis heute, sagt Liedtke, habe der Verband das Projekt nicht mit einem Euro gefördert. Womöglich ein Glück, wenn man bedenkt, wie überraschend deutlich Wohlwollende jetzt bei der Ausstellungseröffnung mit unsittlichen Ansinnen kokettierten: Der Hausherr des Wissenschaftszentrums forderte mehr Zukunftsdynamik im Pixelprojekt. Oliver Scheytt, Kulturdezernent in Essen und Moderator der Kulturhauptstadt-Bewerbung, wünschte mehr »schöne« Revier-Bilder für all jene, die sich von irgendwo her ins Ruhrgebiet klicken. Er verwies den entsetzten Liedtke auf den jüngsten (gesponsorten) Ruhr-»Merian« als Vorbild; gerade der gilt vielen als Beispiel für glatt-gefällige Revier-Ästhetik.
Die Digitalfotografie kennt den Begriff des Bildrauschens. Dann entstehen lustige farbige Pixel da, wo eigentlich nichts ist, wo es dunkel ist. Pixelbunt statt Kohlenschwarz. Der Farbenrausch ist tödlich, das Bild kann man nur mehr in den elektronischen Papierkorb werfen. Ursache sind oft überhitzte Sensoren in der Kamera. Daran sollte denken, wer von außen heiße Marketingluft ins Pixelprojekt leiten möchte: Man sieht es den Bildern an. //
www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de; Ausstellung der Neuaufnahmen im Wissenschaftspark Gelsenkirchen, Munscheidstraße 14; bis 23. April 2006 täglich 8-20 Uhr.