TEXT: ULRICH DEUTER
»Platonow« ist Tschechows allererstes Stück, noch vom Gymnasiasten Anton Pawlowitsch begonnen. Doch drin steckt schon alles, was die späteren Meisterwerke ausmacht: der Ennui einer historisch überlebten Schicht; die nichtssagenden, alles erhellenden Dialoge; die Lebensunfähigkeit, die Sehnsucht nach dem wirklichen Leben; der endlose Untergang. Schauplatz ist das Landgut der Witwe Anna Petrowna; die Sommerdauergäste sind Stiefsohn Sergej und Frau Sofja; Nachbar Glagoljew und Sohn; ein junger Arzt, die junge Marja; der Jude Abram Wengerowitsch, der mit seinen Krediten alles bezahlt. Und eben Platonow, ein Dorfschullehrer, der mit zuschnappendem Grimm die Verlogenheit der Welt attackiert, doch in Wahrheit bloß ein selbstmitleidiger, selbsthassender Zyniker ist. Und dem deshalb oder aus sonstigen weiblichen Gründen sämtliche Frauen des Kreises verfallen sind. Platonow selbst verspricht mal der einen, mal der andern gemeinsame Flucht und seiner demütig leidenden Ehefrau Sascha die Treue. Alle gleichermaßen verachtet er ob ihrer Liebe zu ihm. Am Ende wird er von Sofja erschossen.
Leander Haußmann, der »Platonow« zur Eröffnung seiner Intendanz 1995 am Bochumer Schauspiel (unter dem Namen »Die Vaterlosen«) inszenierte, nannte den Tschechow-Erstling einen »Brühwürfel« und kochte ihn zu einer auf zwei Abende verteilten Riesensuppe auf. Daran muss man unweigerlich denken, wenn man am selben Ort fast zwölf Jahre später »Platonow« erneut auslöffelt, diesmal auf verträglich knappe drei Stunden eingedickt. Bessere Schauspieler damals, großes Gelage. Aber nur in der Tischdeko; auf dem Teller viel großtuende Wässrigkeit. Und nun, das sozusagen kleine Gedeck. Von der jungen Regisseurin Jorinde Dröse zubereitet, weiß es aber sofort einen starken Geschmack zu erzeugen, der alle Ingredienzien verbindet und doch nicht zum Tschechow-Fertiggewürz greifen muss (Strohhüte, Leinenhose). Nein, Dröses »Platonow« ist ein Stück Heute, aber nicht mit Gewalt dahingeholt. Die Figuren sind entsprechend gröber, vor allem der Platonow Janko Kahles zeigt sich offen brutal. Und lässt doch die helle Verzweiflung dahinter durchscheinen; keine geringe Leistung. Vielleicht ein wenig begünstigt dadurch, dass die Frauen durchweg schwach gespielt sind, die Anna Petrowna der Jele Brückner etwa ist kaum mehr als der Umriss einer kühlen Distanziertheit.
ennoch: Es gibt etliche schöne Bilder: Einmal tanzt Sascha (Maja Beckmann) aus Verzweiflung wie eine Spieluhrballerina, deren Feder kaputt ist. Gespielt wird in einem seltsamen, mausoleisch streng geschlossenen Raum (Bühne Julia Scholz). Das fördert die Konzentration. Nach der Pause nimmt sie jedoch leider stetig ab, um am Ende in lärmenden Zappligkeiten unterzugehen.
Den Abend darauf lässt Roland Schimmelpfennig das Stück in neuem Gewand in den Kammerspielen wiederauferstehen. Sein »Besuch bei dem Vater« ist (quasi Haußmanns Diktum aufgreifend) wirklich eine Art »Platonow«-Extrakt: auch hier ein Landhaus; eine müßiggängerische Familie ohne innere Verbindung, bestehend aus dem älterem Ehepaar Heinrich und Edith mit junger Tochter; einer Stieftochter; einer Nichte; hinzu kommen als Gäste zwei weitere Frauen. Da schneit der verlorene Sohn aus einer flüchtigen Beziehung des Mannes herein, von dem dieser 20 Jahre lang nichts wusste. Hatte der Alte sich bislang zaghaft der Nichte seiner Frau angenähert, so wird er von dem Jungen augenblicklich überholt: Peter, so heißt der düster wirkende Sohn, schläft umstandslos sofort mit den wichtigsten Frauen; Edith verfällt ihm regelrecht. Auch hier setzt eine Schießerei das Ende, das den Usurpator – »Ein Fremder mit einem Anspruch auf Nähe« – zurück in den Schnee treibt.
In Schimmelpfennigs »Die Frau von früher« klang der Medea-Mythos an, dessen Weiterwirken im Heute der Meister fein-genauer Szenen testete. Hier klingt ein anderer Mythos, der von Ödipus; vielmehr, er klingelt nur. So wie noch weiteres anklingt, etwa Tennessee Williams’ »Orpheus steigt herab« oder Motive von Jon Fosse. Doch das dramatische Hauptmovens bleibt so unausgeführt wie das Geplauder der Unterhaltungen – Schimmelpfennigs jüngstes Werk ist eine flüchtige Skizze, die die Uraufführungs-Inszenierung Elmar Goerdens mit solidem Stift undynamisch ausführt. Während die Schauspieler mit freundlicher Routiniertheit die Umrisse füllen, die der Autor ihnen hinlegte: Susanne Barth (Edith) spielt wie immer die leicht indignierte Dame; Wolfgang Hinze ist als Heinrich ein allzu glatter Grandseigneur, boulevardesk. Über die andern, an und für sich gute Schauspieler, ist diesmal kaum etwas zu sagen.