Der Roman ist komplex. Alfred Döblin erzählt in »Berlin Alexanderplatz« nicht nur die Geschichte des Proletariers Franz Biberkopf. Er entwirft mit vielen Einschüben und Ausschweifungen ein Bild der Stadt. Das riesige Werk auf drei Theaterstunden zu verdichten, scheint fast unmöglich. Wenn man ihm gerecht werden will. Doch das Theater Bielefeld hat es geschafft und präsentiert zum ersten Mal »Berlin Alexanderplatz« auf einer Opernbühne.
Genauer gesagt ist es ein Crossoverprojekt. Das Schauspielensemble verkörpert die Stadt: ein vielgestaltiger Sprechchor, aus dem sich einzelne Figuren herausschälen und wieder in der Masse verschwinden. Nur vier Rollen sind durchgängig besetzt. Franz Biberkopf, sein Freund und Feind Reinhold, seine Geliebte Mieze. Und es gibt einen Erzähler. Der Schauspieler Thomas Wolff spielt ihn überragend im weißen Kittel als Wiedergänger Alfred Döblins, der ja auch Arzt war, Psychiater. Es ist seine Aufgabe, die Berlinschilderungen in den Abend zu integrieren. Außerdem ist der Erzähler ein Scharnier in Richtung Publikum, ein oft auch ironischer Spiegel des Antihelden.
Biberkopf hat vier Jahre im Knast gesessen. Weil er seine Freundin erschlagen hat, aus Eifersucht. Nun will er neu anfangen. Aber Berlin ist ihm fremd geworden. Er hat Angst vor der Helligkeit, vor anderen Menschen, vor Dächern, die herunterrutschen könnten. Alfred Döblin beschreibt einen Arbeiter voller Körperkraft aber ohne Orientierung. Biberkopf ist Alkoholiker, kommt mit Frauen nicht klar, lässt sich von Nazis verführen. Und doch will er ein besserer Mensch werden. Evgueniy Alexiebv singt und spielt einen Leidensbartion von »Wozzeck«-Format.
Nähe zur heutigen Zeit
Die Komponisten Vivan und Khetan Batti haben eng mit der Librettistin Christiane Neudecker zusammengearbeitet. Ihre Musik schmiegt sich oft an die Handlung an, schreckt nicht vor atmosphärischer Untermalung zurück, bekommt aber auch immer wieder eine eigene Dimension. Einige Zitate verweisen direkt auf die 1920er Jahre. Zum Beispiel das Chanson »Es liegt in der Luft« von Marcellus Schiffer und Mischa Spoliansky. Es ist zu der Zeit entstanden, als Döblin seinen Roman schrieb, ein satirisch-leichter Text mit unheimlichen Untertönen. Nichts ist willkürlich in diesem Musiktheater, alles hat seinen Sinn. Und doch entsteht eine Offenheit, eine Nähe zur heutigen Zeit, ohne platte Aktualisierungen.
Das liegt an der sorgfältigen Regie von Wolfgang Nägele, der den Schauspieldirektor Dariusch Yazdkhasti unterstützt hat. Und an der Dirigentin Anne Hinrichsen, die mit großer Aufmerksamkeit den wilden Stilmix in eine spannende Form bringt. Die Grundfläche der Bühne wirkt kalt und steril. Wände fliegen rein und raus, definieren den Raum immer neu, verwandeln ihn von einem Schlachthaus in eine einfache Wohnung. Der Chor, die Stadt, taucht aus dem Boden auf und verschwindet wieder darin. Es entstehen widerstreitende Gefühle, wie auch in Rainer Werner Fassbinders berühmter Fernsehserie. Eigentlich kann man diesen Biberkopf nicht mögen, der – kaum ist er aus dem Knast heraus – in alte Muster verfällt und einer Frau Gewalt antut. Dennoch ist er ein Leidender, einer der besser sein möchte, aber nicht weiß, wie das geht.
Gegen Ende des Abends marschieren immer häufiger Nazitruppen auf. Klar, das hat man oft im Theater gesehen. Hier wirken die Bilder stark und eindringlich. »Wach sein.« Das sind die letzten beiden Worte des Stücks. Nach viel Komplexität ein klarer Appell, kein Mitläufer zu sein. Egal zu welcher Zeit.
28. Oktober, 1. und 2. November
Theater Bielefeld