TEXT: INGO JUKNAT
Es klingt wie ein Witz: Kommen eine Amerikanerin, ein Chilene und ein Ghanaer nach Deutschland, um eine Serie zu drehen… Aber nun sitzen sie wirklich hier, in einem Seminarraum der Internationalen Filmschule in Köln. Drei Wochen haben sie an einer Webserie gearbeitet. Heute müssen sie das Konzept vorstellen. Das Ganze ist ein Projekt für den neuen Master-Studiengang »Serial Storytelling«.
Eduardo, der Chilene, steht von seinem Stuhl auf und wirft den Beamer an. Der Nachwuchsautor trägt einen leicht verknitterten Anzug, eine Krawatte und übergroße Retrobrille. In dem Outfit wirkt er wie ein hipper Verkäufer, und das ist er heute auch. Sein Produkt ist eine Serie. »Hail Herman« heißt sie, Eduardo hat sie sich gemeinsam mit drei Kommilitonen ausgedacht. Die potenziellen Abnehmer sitzen in der ersten Reihe. Es sind Sylke Rene Meyer und Gundolf Freyermuth, Professoren an der Kölner Filmschule. Meyer leitet den neuen Studiengang. Freyermuth ist eigentlich für Medienwissenschaft zuständig, heute soll er zusätzliches Feedback geben. Die Präsentation läuft auf Englisch ab, so wie der gesamte Unterricht.
Eduardo, der Verkäufer, holt eine leere Flasche Jägermeister hervor. Dann hält er sie in Richtung Publikum, als wollte er einen Zaubertrick vorführen. »Was macht man damit?«, fragt er. Seine Kommilitonen lachen. Antwort nicht erforderlich. »Genau«, ruft der Chilene, »Geld reinwerfen!« Die Flasche gehört Herman, einem Taxifahrer in Seattle. Er ist die Hauptfigur der neuen Serie. Früher war er Physiklehrer an der Highschool, dann ist eine Menge schiefgegangen, vor allem alkoholbedingt. Jetzt ist der Job weg, die Frau auch, nur die Jägermeisterflasche ist noch da. Sie fungiert als Portemonnaie und Trinkgeldbehälter. Herman philosophiert gerne. Oft vertritt er abseitige Meinungen, wahrscheinlich muss man ihn sich wie einen taxifahrenden »Dittsche« vorstellen. Eduardos Gruppe denkt eher an Zach Galifianakis, den bärtigen Schauspieler aus »Hangover«.
MAN GUCKT DAS IM NETZ
Jede Folge von »Hail Herman« dauert fünf Minuten, eine gute Länge für Youtube. Und für Handynutzer, die die Serie in der U-Bahn gucken. Jede Episode dreht sich um einen bestimmten Fahrgast und dessen Verhältnis zu Herman. Es gibt auch eine Rahmenhandlung. Da geht es vor allem um die Hochzeit von Hermans Tochter, die er finanzieren will – aber nicht kann. Die Hauptfigur klinge nach Mr Bean, findet Freyermuth. Ja, sagt Eduardo, »if Mr Bean would drink and drive«. Die Kommilitonen lachen, Freyermuth auch, die Präsentation läuft.
Der Humor von »Hail Herman« soll sich an Vorbildern wie »30 Rock« und »Californication« orientieren. Sprich: Es darf auch derber zugehen. Die Zielgruppe ist zwischen 20 und 35 angesiedelt, man ist ja im Internet. Lahme Serien für veraltete Medien wollen sie hier ohnehin nicht drehen. Einen Fernseher hat in diesem Seminarraum keiner mehr. Sie alle schauen ihre Lieblingsserien auf dem Laptop oder iPad.
Die Filmindustrie ahnt das so langsam. Dieses Jahr startete in den USA die erste Multimillionen-Produktion, die (zunächst) gar nicht im Fernsehen gezeigt wird: »House of Cards«. Die Serie um einen ultrakorrupten Kongressabgeordneten, gespielt von Kevin Spacey, bricht auch sonst mit Traditionen. Sie folgt z.B. keinem wöchentlichen Ausstrahlungsmuster mehr. Man kann die Folgen schauen, wann man will – und wie lange. Theoretisch ist es möglich, die ganze erste Staffel an einem Stück zu gucken, elf Stunden lang. »Binge-watching« nennt sich das in Amerika. Frei übersetzt heißt das soviel wie »Marathon-Glotzen«.
Dabei werden digitale Kanäle selbst für traditionelle Serien, die zunächst im Fernsehen ausgestrahlt werden, immer wichtiger. Über das Internet erreichen die TV-Sender ein Publikum, das den Fernseher gar nicht mehr anschaltet. Ein gutes Beispiel ist die Serie »Mad Men«. In Deutschland lief sie bei Arte. Die Einschaltquoten lagen unter dem Senderdurchschnitt. Und das in der ohnehin nicht gerade topfrequentierten Kulturnische. Dass »Mad Men« trotzdem als Erfolgsserie gilt, liegt vor allem daran, dass die meisten Fans sie entweder im Netz oder auf DVD schauen.
Natürlich verändert das Internet nicht nur Zeitpunkt und Taktung der Serien. Es ermöglicht auch die vielbeschworene – wenn auch bisher wenig genutzte – Interaktion. Die Studenten an der IFS wissen das. Sie wollen das Feedback des Publikums. Deshalb hat die neue Serie einen Twitter-Hashtag. Unter #wwhd (»What would Herman do?«) können die Zuschauer über einzelne Folgen diskutieren. Sie können sich sogar wünschen, welchen Fahrgast Herman demnächst mitnehmen soll. Vielleicht wird es auch mal ein Prominenter, je nach Budget. Apropos Budget: Die Serie soll natürlich im Internet finanziert werden – per crowdfunding.
DAS MACHEN KOSTET
Alles gut, soweit, findet Professor Freyermuth. Nur mit dem Namen hat er ein Problem. »Hail Herman« ist ein schönes Wortspiel im Englischen, aber was werden sie in Deutschland sagen? Werden die Zuschauer an »Heil Hitler« denken? Amy, die Amerikanerin, wundert sich. »Komisch, diese Assoziation kam in unserer Diskussion gar nicht auf.« Die Deutschen mit ihrer political correctness.
Es gibt noch eine zweite Serie an diesem Tag. Sie heißt »The Waiting Area«. Es geht um einen Möchtegern-Rockstar auf dem Weg nach New York. Dort soll er gemeinsam mit seinem größten Idol Jimmy Cockroach auftreten. Schade nur, dass sein Flug wegen einer vulkanischen Aschewolke ausgefallen ist. Nun sitzt der Rockstar am Frankfurter Flughafen fest. Dort hat er nun Zeit, sich mit allerlei schrägen Vögeln zu unterhalten – vom esoterischen Guru bis zum zynischen Banker. Das Format soll einmal in der Woche laufen. Warum diese traditionelle Taktung, will Freyermuth wissen. »Das gehört zum Serien-Feeling«, verteidigt sich Max, ein Schweizer. In seiner Heimat betreibt er eine Filmproduktion. Branchenerfahrung müssen alle Teilnehmer des neuen Studiengangs mitbringen, das ist Aufnahmebedingung. Nicht jeder muss eine Produktionsfirma leiten, ein Jahr praktische Erfahrung sind trotzdem notwendig.
Was man ebenfalls mitbringen sollte, ist ein gewisses Finanzpolster. Die Teilnahme an »Serial Storytelling« kostet 2.500 Euro pro Semester. Hinzu kommt eine einmalige Einschreibungsgebühr von 400 Euro. Dafür bietet die IFS allerdings auch einiges. Das Seminar ist mit zehn Teilnehmern schon fast intim. Die Professoren können sich intensiv um die Studenten kümmern. Außerdem bekommen sie prominente Unterstützung aus Übersee. Meyer hat Profis aus dem amerikanischen Serienbetrieb nach Köln geholt. Lisa Albert, eine der Drehbuchautorinnen von »Mad Men«, ist dabei, Frank Spotnitz von »Akte X« und »Hunted«, Jane Espenson von »Game of Thrones«, Brad Bell von »Husbands« und andere. Sie sollen den jungen Nachwuchsautoren zeigen, wie das komplexe Räderwerk einer Serie funktioniert.
ABER ES BRINGT AUCH WAS
Neben dem internationalen, englischsprachigen Studiengang war ursprünglich auch einer für den deutschen TV-Markt angedacht. »Dann hat sich herausgestellt, dass sich unsere Bewerber alle für den internationalen Markt interessieren«, erzählt Carolin Große Hellmann, Leiterin des Drehbuchseminars. Im ersten Semester geht es vor allem darum, existierende Formate zu analysieren. Später schreiben die Studenten ein sogenanntes spec script. Das ist ein »spekulatives« Drehbuch für ein real existierendes Format – in diesem Fall die neue US-Serie »Sam Hunter«.
Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Umso erstaunlicher, wie professionell und engagiert schon die heutige Fingerübung funktioniert. Ganze drei Wochen läuft der Studienbetrieb – viel Zeit, sich zu akklimatisieren, hatten die Studenten nicht. Dreiviertel von ihnen kommen aus dem Ausland, die meisten sind zum ersten Mal in Köln. Für manche ist Deutschland insgesamt eine neue Erfahrung. Die Reise setzt ein gewisses Vertrauen voraus. Als Pilgerstätte für Drehbuchautoren ist Deutschland nicht gerade bekannt. Normalerweise kommt man hierhin eher, um Ingenieur zu werden.
Die wenigen Experimente mit anspruchsvollen Serien im US-Stil, die hierzulande gewagt wurden, gelten nicht gerade als Blockbuster. Dominik Grafs »Im Angesicht des Verbrechens« ernte viel Kritikerlob, floppte aber bei den Einschaltquoten. Ist das nicht enttäuschend? Sylke Meyer, die Serien-Professorin, sieht das nicht so: »Das wird von schon von vielen Leuten geguckt, nur auf anderen Kanälen. Und es bestimmt den kulturellen Diskurs – deshalb sitzen wir ja heute hier.« Dadurch wird die Finanzierung nicht unbedingt leichter. Dass es horizontal erzählte Serien – mit Rahmenhandlung statt unverketteten Einzelepisoden à la »Tatort« – hierzulande schwer tun, räumt Meyer ein. Andererseits seien die Zeiten, als das Fernsehen noch ein Programm für alle lieferte, vorbei. »Und das ist auch gut so.« Das Programm diversifiziert sich, nicht zuletzt über Spartenkanäle und Internet-Mediatheken. Das schafft neuen Chancen für anspruchsvolle »Nischenprodukte«.
Was bleibt, ist das Problem der Finanzierung. In der Nische liegt selten viel Geld. Zumal Bezahlsender wie HBO oder Netflix, die in Amerika für anspruchsvolles Programm sorgen, hierzulande eher für Fußballspiele und Live-Übertragungen vom Nürburgring stehen. Eine Lösung sieht Meyer in der europäischen Filmförderung. »Nehmen Sie Serien aus dem »nordic noir«-Genre wie »Borgen« oder »The Killing« – die sind häufig dänisch produziert, aber europäisch finanziert.«
Gab es einen besonderen Anlass, genau jetzt einen Studiengang namens »serial storytelling« anzubieten? Lag es am »Goldenen Zeitalter« der US-Serien? »Ich denke, es sind nicht nur die amerikanischen Formate«, sagt Meyer. »Serielles Erzählen ist zeitgenössisches Erzählen. Es betrifft nicht nur das Fernsehen, sondern auch Videospiele und zunehmend auch das Kino. Das entspricht einem aktuellen Zeitempfinden.«