TEXT: ANDREAS WILINK
Michael Hanekes Filme handeln von Zerstörung. Es ist, als würde in einen Wirtskörper ein Bazillus dringen und ihn, je nachdem, mit sanfter oder roher Gewalt vernichten. In »Funny Games« bricht als namenloser, sinnloser Schrecken der mörderische Sadismus zweier junger Killer über eine Familie im Ferienhaus. In »Caché« muss ein Intellektueller in seiner vermeintlich sicheren, wohlhabenden und intakten Welt einer unvergangenen Schuld ins Auge sehen. »Das weiße Band« porträtiert romanhaft ein norddeutsch protestantisches Dorf und die deutsche Vorkriegsgesellschaft 1914 insgesamt und gestaltet subtil ein ominöses Täter-Opfer-Profil. »Die Klavierspielerin« nach Jelinek richtet einen Jüngling ab und lässt ihn die Schmerzen der sexuellen Fantasie der von ihrer Mutter abhängigen Tochter erfahren. Und da helfen nicht Kunst und Kultur noch Bildung und zivilisatorische Leistung, kein Beethoven und Schubert, nicht die Literatur und auch kein Gebet. Das Andere, was immer es sein mag, ist stärker und grausamer.
In Hanekes neuem Film, der schlicht und definitiv »Liebe« heißt und in Cannes nur drei Jahre nach »Das weiße Band« ebenfalls mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde (was in der Geschichte des Festivals einmalig ist), begegnet uns die Zerstörung des Alters – Philip Roth zufolge »ein Massaker«. Das zweistündige Kammerspiel über Georges und Anne, die auch Philemon und Baucis heißen könnten, um die 80 und Musikprofessoren im Ruhestand sind, enthält eine Szene, die wiederum davon erzählt, was die Tröstung der Kunst vermag – oder eben nicht vermag. Anne sitzt am Flügel, Georges hört ihr vom Sessel aus zu. Es erklingt Franz Schuberts Impromptu opus 90 / Nr. 3. Nach einer Weile greift er hinter sich ins Regal und stellt den CD-Player ab. Anna hatte gar nicht selbst gespielt. Die Noten sind ihr entschwunden. Sie hat keinen Begriff mehr davon. Begabung, Wissen, Bewusstsein erlöschen.
Der österreichische Regisseur ist nach Form und Sinn, Stil und Methode subversiv. Ein bürgerlich feinsinniger Untergrundkämpfer, der soziale Ordnungen befragt – vom Rande aus herausgehobener Position: der idealen Beobachter-Perspektive. Auch in »Liebe« bleibt der Filmemacher der nüchterne Betrachter, der die Kamera von Darius Khondji positioniert und sie still und streng durch Flure, Räume, Durchlässe der weitläufigen Wohnung mit ihren Flügeltüren blicken und sich bewegen lässt.
Das unerbittlich Unsentimentale erst bildet die Basis für die emotionale Wucht, für den Schmerz, den Haneke uns zufügt. Auch dank seiner grandiosen Hauptdarsteller Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva. Das zarte und zärtliche Miteinander des Paars, ihre Zuwendung und Hingabe, die Nähe dieser zwei sich im Tiefsten erkannt habenden Menschen, die Seelenpein, mit der er angesichts von Annes körperlicher und geistiger Entkräftung nach einem Schlaganfall und Klinikaufenthalt die Stadien des Verfalls – bis zu ihrem Tod durchleidet, vereint sie in einer exklusiven Beziehung. Die auch Tochter Eva (Isabelle Huppert), die gelegentlich aus dem Ausland zu Besuch kommt, verschlossen bleibt. Sie kann und will vielleicht auch nicht begreifen, was vorgeht. Die anderen – Eva, ein ehemaliger Schüler und nun zum Klaviervirtuosen avanciert, die Pflegekräfte –, wir anderen sind Zeugen und außen vor. Der Isoliertrakt als letzter Ort von Autonomie: Georges und Anne kapseln sich ein, Kommunikation bricht ab. Zu einer Taube, nicht zuletzt auch Symbolgestalt höherer Wesenheit, nimmt Georges Kontakt auf. »Ist hier jemand?«, ruft Georges einmal in die leeren Zimmerfluchten hinein.
»Amour« ist das Hohelied der Liebe, ist Widerspruch gegen den Tod, wie man ihn in seiner Unbedingtheit von Canetti kennt, und ein geduldiges Sterbeprotokoll. Dem Tod bei der Arbeit zuschauen, sei, hat Jean Cocteau einst gesagt, die Sache des Kinos. Der Wahlfranzose Haneke zeigt sich auch hierin als Großmeister.
»Liebe«; Buch und Regie: Michael Haneke; Darsteller: Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud; Deutschland/Österreich/Frankreich 2012; 125 Min.; Start: 20. September 2012.