Da liegt er gut gelaunt im Schaumbad. Erst wendet Sigmar Polke sich dem großen Hund am Rand zu, dann spielt er Wasserleiche und erwacht schließlich mit einem dicken Streifen Schaum auf der Stirn. Wem gehört der Hund? Wo stand die Wanne? Wer überhaupt hat den Auslöser betätigt? Lauter Fragen, die sich stellen angesichts der amüsanten Badezimmer-Fotos, die unter vielen anderen im Museum Morsbroich hängen. Denn immer noch möchte man mehr wissen über sein Leben und Werk. Auch acht Jahre nach Polkes Tod ist längst nicht alles entdeckt, gesichtet, gesagt, geschrieben. Vor allem, was Polkes Fotos und Filme betrifft. Es sind unzählige, denn die Kamera hatte er immer und überall dabei, im Bad daheim und unterwegs mit Freunden oder auf Reisen. Meistens drückte er selbst ab, oft gab er den Apparat auch weiter, um sich vor der Linse mit Hintersinn und ganz eigenem Humor in Pose zu bringen.
Seine kostbare Zeit wollte er ganz der Kunst widmen, nicht dem Verwalten. Statt die unzähligen Bilder also zu sortieren und zu archivieren, sie möglicherweise sogar mit Titel und Jahr zu versehen, steckte Polke sie einfach weg. Zwei Konvolute hatte er Ende der 70er und Mitte der 80er Jahre seinem Sohn Georg zugeschoben, der sie fast vergessen hätte. Unlängst erst war ihm der Schatz wiederbegegnet. Fast 1000 größtenteils unbekannte Bilder. Kunststücke, die Polke auf Schritt und Tritt begleiten und Spuren legen: in die rheinische Kunstszene der Zeit, zu Polkes Familie und den Lebensgefährtinnen, zur Kommune auf dem niederrheinischen Gaspelshof, ins Zürcher Nachtleben … rund die Hälfte der Bilder präsentiert erstmals diese Schau – eine kleine Sensation.
Vielleicht erinnert man sich an die wunderbare Ausstellung des Kollegen Gerhard Richter, der das intime Schloss-Ambiente vor einigen Jahren als Bühne für die erste große Präsentation seiner Fotoübermalungen gewählt hatte. Meistens waren es Bilder, wie man sie in jedem Familienalbum findet – kleine, unscheinbare Abzüge, denen Richter mit Farbresten aus der eigenen Gemälde-Produktion zu Leibe gerückt war. Alle genau lokalisiert und datiert. Polke dagegen gibt Rätsel auf. Etwa bei seinen fotografischen Streifzügen durch die Stadt, ist es Düsseldorf, Zürich oder Köln? In Paris wird das Trottoire geteert, aber warum fotografiert er das? Wo hat er das markante Tierskelett gesehen? Was reizte ihn am Gummibaum-Motiv? Ist die Frau am Strand verwandt mit Caspar David Friedrichs Mönch am Meer? Was steckt hinter der Performance in der Badewanne?
Ganz anders als Richter gehen Polke und seine Kumpane mit dem Medium um. Legendär die sogenannten »Linsenflirts«: Waren sie beisammen, wurde der Apparat herumgereicht. Abwechselnd drückt man ab oder inszeniert sich. Ein schelmischer Polke, eine schöne Katharina Sieverding, beide am Vernissage-Abend in Erhard Kleins Bonner Galerie. Doch was ist das? Am unteren Rand des Abzugs scheint das Bild sich zu verflüssigen, spritzt und sprudelt. Polke, der Alchemist, nutzt die Dunkelkammer zu mannigfaltigen Manipulationen.
Grundsätzlich stellt er das Dokumentarische hintan oder in Frage. Bereits beim Fotografieren operiert er bewusst dilettantisch, absichtlich unscharf oder mit falscher Belichtungszeit. Während Richter seine Schnappschüsse nachträglich bemalt, greift Polke früher ein und zieht dabei alle Register: Schon beim Entwickeln der Bilder wird wild herumexperimentiert. Er unterbricht den Prozess, solarisiert zwischendurch, lässt die Fixierung unvollendet, manchmal verwischt oder bleicht er Teile, verleiht den Arbeiten so malerische Qualitäten.
Verdorbene Emulsionen werden benutzt. Auch Doppelbelichtungen kommen vor oder Kombinationen von Negativ und Positiv. Die Toilette in der Düsseldorfer Wohnung dient Polke bereits Anfang der 70er Jahre als Dunkelkammer. »Ich hatte alle Fehler, die beim Entwickeln und Vergrößern geschehen können, eingesetzt«, sagt er rückblickend, »aber so, dass sie das Bild zugleich interpretieren«.
Die Ergebnisse der fotografischen Notate und fototechnischen Versuche zeigt die Ausstellung so gut es geht geordnet und zumeist in Streifen gerahmt. Läuft man die Wände entlang, wirkt es ein wenig wie ein Film, in dem sich Kunst und Leben vermischen und eins werden. Eine Idee, die in Polkes Biografie eine Entsprechung findet. Er quittiert das Familienleben mit seiner Frau und den zwei Kindern in einer Düsseldorfer Dachgeschosswohnung. 1972 mietet er den Gaspelshof in Willich und gründet eine Kommune, wo das Leben zur Kunst wird und umgekehrt.
»Er ist selten allein«, wird berichtet. »Er lebt, reist, ja arbeitet in der Kommune – wer mit ihm zusammen ist, nimmt teil an der Produktion.« Die Gemeinschaft arbeitet experimentell in diversen Techniken und Medien, und man hat Spaß. »Wir lachen uns kaputt. Es läuft prima. Mehr ist nicht zu sagen«, so meldet Achim Duchow, zuerst Polkes Student an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste und später Mitbewohner auf dem Gaspelshof.
In die bewegte Kommunen-Zeit am Niederrhein fallen die meisten Arbeiten der Leverkusener Schau, wobei die überlieferte Heiterkeit damit zu tun haben könnte, dass auf dem Gaspelshof nicht nur mit fotochemischen Substanzen experimentiert wurde. Verarbeitet und konsumiert wurden auch allerlei bewusstseinserweiternde Extrakte. Zu sehen ist das Foto eines unbekannten Pilzes auf dem Waldboden, möglicherweise kurz vor der Ernte.
Wie geht es danach weiter? Sigmar Polke zieht 1978 nach Köln, unternimmt Reisen in ferne Länder. Natürlich fotografiert er weiter, auch sieht man ihn immer öfter mit seiner 16-Millimeter-Kamera hantieren. Vor allem aber betritt er in den 80er Jahren mit großangelegten Malerei-Experimenten neues Terrain. Was in der Dunkelkammer begonnen hat, wird nun im Atelier fortgesetzt. Polke macht sich unerprobte Farbstoffe, Materialien und Chemikalien malerisch zu nutze. Die Schau schließt mit einem Ausflug zur Biennale in Venedig 1986, wo Polke im deutschen Pavillon mit malerischen Werken beeindruckt, die chemische Prozesse durchliefen und sich vor den Augen der Besucher ständig veränderten.
Auch in Leverkusen ist alles im Fluss. Denn am Riesenpuzzle aus Polkes Kiste ist noch einiges zu tun. Die Recherche zu Orten, Personen, Zusammenhängen der Fotos steckt erst in den Anfängen. Wer, wann, wo? Vielleicht können Ausstellung und Katalog helfen, das ein oder andere Teil zusammenzufügen.
MUSEUM MORSBROICH, LEVERKUSEN
BIS 2. SEPTEMBER 2018
TEL.: 0214 / 855560