TEXT: ANDREAS WILINK
Ein Sirren, als würde eine Sense die Luft zerteilen. Als wolle Andrea Breth akustisch kundtun, dass der Schnitter Tod reiche Ernte hält. Menschheitsdämmerung im Vorschein des Stalinismus: »Marija« von Isaak Babel, 1935 verfasst in klarer Nüchternheit. Im Jahr darauf wird der kommunistische Individualist André Gide nach der Rückkehr aus der UdSSR notieren: »Und ich bezweifle, dass in irgendeinem anderen Land heute (…) der Geist weniger frei ist, mehr gebeugt wird, mehr verängstigt ist, mehr terrorisiert und unterjocht.« In diesem Klima lebte Babel bis zu seiner Ermordung 1940.
Ein Gesellschafts-Panorama aus dem revolutionären Petrograd des Jahres 1920. Es sind »fleischfressende Zeiten«, so Anna Achmatowa. Die proletarische Utopie trägt den Keim der Seuche in sich. Befallen sind Offiziere, Handwerker, Händler, Arbeiter, Invaliden und Ehemalige wie Fürst Golizyn, der für eine warme Mahlzeit in einer Kneipe auf dem Cello Bach spielt und bei Christoph Luser sanftmütig von innen her leuchtet. Musikalisch schartige Querschläger trennen knatternd, kreischend, quietschend in Düsseldorf die acht Szenen und dirigieren sie in die Dissonanz. Die Titelfigur bleibt ein Phantombild. Die Tochter des zaristischen Generals Mukownin (Peter Jecklin, der in seiner gestürzten Größe die Aufführung dominiert) und Schwester der Ludmilla (Marie Burchard) steht als Parteikommissar an der polnisch-russischen Front. Ihrer zugrunde gehenden Familie schickt Marija nur einen Brief, halb idyllisierend, teils beklemmend ausweichend, teils sorgenvoll, statt selbst heim zu kommen. Den Brief liest Imogen Kogge als Mukownins Hausdame bei Kerzenschein Marijas Vater vor. Beide kommentieren die Lektüre in grimmigem Sarkasmus: ein Ungläubigkeitsbekenntnis. Es ist zum Heulen und Verrücktwerden.
Die wie von einem schwarzen Passepartout gerahmte und verkleinerte Bühne im Schauspielhaus (Raimund Voigt) hält sich an die Rekonstruktion: ein paar Zimmer, bläulich-grünlich gestrichen, Relikte einstmals vornehmer Bürgerlichkeit wie ein Flügel, auf dem jetzt die Kinderfrau Wäsche bügelt. Manchmal ist’s zuviel des Naturgetreuen. Zumal zentrale Figuren wie der durch einen Genickschuss Knall auf Fall beseitigte Ex-Rittmeister Wiskowski des Gerd Böckmann bis ins Zucken des Schnurrbärtchens und der in die Fistel gesteigerte jüdische Schieber Dymschitz (Klaus Schreiber) sich knapp neben dem Chargieren bewegen. Überhaupt ist es so beruhigend wie ernüchternd, dass auch die Magierin Breth aus dem mittleren Maß eines Ensembles nicht nur Spitzenleistungen zaubert.
Ab dem sechsten Bild (auf dem Milizrevier beim Verhör der geschändeten Ludmilla) bricht Breth die Stimmung und treibt in die Puppenstuben-Ansichten mit expressionistisch gespitzter Diagonale einen Keil. Plötzlich erreicht der Abend Plastizität, Dringlichkeit und Intensität, als würde die gleichgültige stählerne Kälte eines Fallbeils hernieder sausen. Am Schluss bekommt Mukownins Wohnung weißen Anstrich für die neue Zeit und neue Bewohner bekommt. Die Umordnung überwacht die Hausmeisterin im bodenlangen Pelz, der Elisabeth Orth die herrisch hallende Stimme des Volkes gibt. Von draußen dröhnt Marschmusik, zu deren schmetterndem Gesang eine Putzfrau paradiert. Gleichschritt statt Fortschritt. Eine Schwangere plärrt schmerzverzerrt. Das also ist das Gesicht der Zukunft: eine Grimasse.