// Flint ist immer noch da. Wer Alain Platels Mozart-Performance »Wolf« gesehen hat, kennt auch Flint, einen der Hunde, die über Bert Neumanns Bühne stromerten. Als ich vor fünf Jahren erstmals nach Gent zu Proben von Alain Platel fuhr, lagen Im Besprechungszimmer Bücher über Hunde, Wölfe und Werwölfe herum, darunter von Jack London und Stephen King. Die Buchstaben »W-O-L-F« waren in Gebärdensprache aufgemalt, deren Stille Platel fasziniert und die er in einem Krisenmoment selbst erlernt hat: Gestreckte Finger, Geschlossene Faust. Damals benutzten »Les Ballets C. de la B.« Probenräume in der weitläufigen Anlage des ehemaligen Klosters De Bijloke. Das passte gut, auch weil Säkularisation ein Stichwort für Platels seit 1984 entstandenes Œuvre ist.
Längst ist man wieder mal umgezogen, wie so oft in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Er kenne, sagt der 52-jährige Platel lachend, alle stillgelegten Fabrikhallen oder sonstig für Kunst und Kultur eroberten Areale der Umgebung. Für »Pitié«, Platels Aneignung von Bachs Matthäus-Passion, hat die Truppe in der ausgedehnten Hafengegend provisorisch Heimat gefunden. Platel, der das vertraute Gent für sich als immer »kostbarer« erkennt, findet das gut. Man hat ohnehin den Eindruck, dass viel passieren muss, um ihn aus der Ruhe zu bringen und seine Ausgeglichenheit zu kippen. Dass Platel und seine weltweit gefeierte Compagnie demnächst einen eigenen modernen Studiobau im Zentrum von Gent beziehen werden, wo man endlich Platz genug haben wird, um Musiker und Tänzer gemeinsam arbeiten zu lassen, betrachtet der Choreograf zwiespältig. Er habe Angst davor, auch vor der Gediegenheit des Milieus. Das Ambulante ist ihm lieber als das Stationäre.
Hier, im ärmsten und »spannungsreichsten« Viertel der flämischen Stadt an der Schelde und Leie, ist das anders. Und der künstlerischen Arbeit dienlich. Arte povera ohne Zutat. Neorealismus ohne Attitüde. Die Tänzer – zehn sind es für »Pitié«, drei Frauen und sieben Männer – kämen täglich aus der Stadt her, zu Fuß, mit dem Rad oder auf Rollschuhen, und würden en passant eine soziale Wirklichkeit wahrnehmen, die die Stücke von Platel zumindest grundiert, wenn nicht thematisiert. Sie trügen so zur Probe »a lot of luggage« und könnten ihre Päckchen ablegen und öffnen.
Das vielsprachige, in Charakteren, Typus und Herkommen ganz unterschiedlich ausgesuchte Ensemble – ihnen allen gemeinsam ist physische Präsenz auf der Bühne und eine Art »Schüchternheit und Bravour« – benutze eine gemeinsame »bastard language«, so Platel. Das galt damals, bei »Wolf«. Es gilt noch immer.
Der zweistündige Probenlauf, der an diesem verregneten Juni-Mittag exklusiv wenigen Freunden und Kollegen gezeigt wird und eine Auswahl aus bisher etwa vier Stunden Material darstellt, das sich in zwei Monaten ansammelte, zeigt Platels Stärken. Er lässt gewähren. Die »Versuchsphase« interessiere ihn ohnehin am meisten; zu sehen, welche »Vorschläge« gemacht werden.
Der gelernte Heilpädagoge, der während eines Schüleraustauschs bereits in den USA mit Behinderten gearbeitet hat, ist ruhig, konzentriert, aufmerksam. Sein die Genres schleifendes Körpertheater – rüde, sensibel und spirituell, dynamisch und wild – entsteht aus dem Geist von Toleranz und compassion. Im Gespräch wird Alain Platel den Dalai Lama zitieren: »Compassion ist the radicalisme of our time«.
Zu seinen Füßen am Regiepult liegt Flint. Herr und Hund haben sich gefunden: »nett, diskret, nicht nervös, ohne viel Aufmerksamkeit zu fordern und very sentimental«. So beschreibt Platel Flint und hat sich in aller Bescheidenheit selbst charakterisiert.
Zehn Jahre nach dem Stück, mit dem sich Platel endgültig etablierte, nach »Iets op Bach«, beschäftigt ihn wieder etwas von Johann Sebastian Bach, wobei ihn die Liebe zur Schönheit von dessen Musik und die, fast möchte man sagen, heilige Scheu ihr gegenüber nie loslässt.
»Pitíé« entsteht zudem zwei Jahre nach Monteverdis Marienvesper »vsprs«, die ebenfalls von der RuhrTriennale koproduziert und dort 2006 gezeigt wurde. Für Platel war sie ein »Schlüsselerlebnis«. Eine Erweckung, als sei er zuvor »vom vielen Schreien heiser geworden«. In Monteverdis Abendgebet konnte er »etwas Leiseres, nach innen Gerichtetes« kreieren, wie er in seinem Gesprächs-Buch mit Renate Klett ausdrückte. »Intimität« ist das von ihm am häufigsten benutzte Wort, auch um die Situation und Atmosphäre zu erfassen, die er für seine Tänzer entwickelt.
Für die Bindung und den Wärmehaushalt sei es wichtig, »die Intimität des gemeinsam miteinander Teilens« zu erreichen. Durchaus eine Strategie des »Katalysators« Platel im Arbeitsprozess, die aber gleichwohl seinem integrativen Wesen entspricht. Eine andere Kommunion, die sich auch dadurch vollzieht, dass während der Proben jeder der Tänzer einem Kollegen eine Bewegungsserie »schenkt«.
Die Abendmahlszene, deren Choreografie wir dann auf der kleinen Bühne sehen, gleicht wechselnden tableaux vivants, zu denen sich das Zehner-Ensemble, teils eingehüllt in blaue Plas-tikbahnen, aufrichtet. Ungeheure Bilder türmen sich da, während ein jazzig vertontes »Buß und Reu« gesungen wird. Die Panoramen erinnern an die verzweifelten Notschreie und hilflosen Rettungsaktionen der Gekenterten auf Géricaults erschütterndem Gemälde »Das Floß der Medusa«. Und auch an Einstellungen aus dem frühen Pasolini-Film »La Ricotta« von 1962.
Die Auseinandersetzung mit Inbrunst und Ekstase, wie sie »vsprs« gestaltete, hat viele irritiert und zu Abwehrreaktionen veranlasst, deren vorschnelles Urteil dann »Kitsch« lautete. Wie weit kann man nun mit Bach gehen und seinem umfangreichsten Opus, diesem Heiligtum des Evangelischen und Hochamt aus protestantischem Geist? Alain Platel hat den Titel »Pitié« der Alt-Aria »Erbarme dich« aus dem Oratorium vom Leiden und Sterben Christi entnommen, das Bachs strengen Zeitgenossen als in seinem Habitus zu opernhaft galt und erst von Felix Mendelssohn Bartholdy triumphal wiederentdeckt wurde.
Im Probenraum hängen an der Pinwand mit den Ablauf-Listen für die Stationenfolge der Aufführung mehrere Zettel. Auf einem ist notiert: »Few with so much, lots with so little«. Formel für das asketische Ideal. In einem Regal stehen, griffbereit für Platel, wieder Bücher und DVDs. Neben dem Neuen Testament sind es u.a. Bildbände über »Faces of Christianity«, »Le corps et le sacré« und Martin Dislers »Häutung und Tanz«. Zu den Filmen gehören ein Videotape über Auschwitz, Buchenwald und Yad Vashem sowie Mel Gibsons krude kriegerische »Passion« in Hollywood-Aramäisch und eine Pasolini-Kassette.
Natürlich denkt man gleich an die Verfilmung des »Ersten Evangelium des Matthäus« durch den italienischen katholischen kommunistischen homosexuellen Rebellen, in dem Jesus als Mensch und nicht als Gott in einem konkreten kargen Realismus dargestellt wird. Mehr aber noch habe sich Platel, der in seiner Jugend als Katholik von der Gruppierung »Christen für den Sozialismus«, der Theologie der Befreiung und von Frère Roger in Taizé beeinflusst wurde, für »Pitié« mit Pasolinis Kurzfilm »La Ricotta« beschäftigt. In dieser Burleske, garniert mit manieristischen Einsprengseln, politischer Reflexion und riskanten ästhetischen Experimenten, reagiert Pasolini sarkastisch auf die Trivialisierung und Kommerzialisierung des Kreuzigungsgeschehens und wählte sich für die Hauptrolle einen proletarischen Golgatha-Komparsen.
In 23 dem Bach-Werk entnommenen Motiven werden wir in »Pitié« dem Menschen als Outcast begegnen, werden wir gruppendynamische Prozesse, Reibungen, extremste Psychomotorik erleben. Platel ist fasziniert von allem, was anders ist. Es sei bei ihm, gibt er zu Protokoll, eine »Mischung aus Perversion und Neugier« für das Nicht-Funktionieren, die Störung, die Abweichung, die Ausnahme. Das Unnormierte und Ungewöhnliche bekommt in der musikalisch wiede- rum von Fabrizio Cassol bearbeiteten Matthäus-Passion Gestalt.
Im Mittelpunkt steht für Platel die Beziehung Mutter-Sohn: Maria, deren Fleisch von ihrem Fleisch zur Schlachtbank geführt wird; Maria, die wie jede Mutter einem Kind das Leben schenkt, wissend um die einzige Sicherheit, dass sie ihm damit am Ende zugleich den Tod gibt. Das ist für Platel schlicht unfassbar, das »Schrecknis«. Ihm geht es darum, weniger »angstvoll« über Religion zu sprechen, auch mit Blick auf seine Compagnie, die zur Hälfte aus anderen Kulturkreisen stammt. Obgleich und zumal, wie er erzählt, selbst die Katholiken Probleme mit dem Heiland und Heilsgeschehen hätten, besonders damit, dass die Mutter Gottes Zeugin der Marter Jesu werde und sich doch nicht vor und über ihn werfe, wie die Löwin vor ihr Junges. Es gebe in »Pitié« nicht die christliche Erfahrungsnotwendigkeit; die Musik und die zentrale Idee des »Erbarmens«, die Emotionen und Gefühlskonflikte seien wesentlicher als die ihr zu Grunde liegende biblische Geschichte.
Das Fragile und Furiose vereinen sich bei den vorgeführten Etüden auf grandiose Weise zu Leidensfakten. Die Häutung ist das Hauptmotiv. Oft sind es Soli oder Paar-Szenen, bei denen sich die Partner und Protagonisten entkleiden und gegenseitig an die Haut krallen. Ganz nackt sind sie nie – das mag Platel nicht. Der geschundene Körper wird dargeboten wie auf Grünewalds Altar. Es ist, als blende Bachs Partitur zurück in die monastische Tradition des 12. und 13. Jahrhunderts der »membra Jesu nostri«, der mystisch-meditativen Versenkung in den Leib Christi. Die Tanzenden rollen die Schultern und lassen die Bauchmuskeln spielen, als wären es eigenständige Organismen, schneiden Grimassen, ziehen sich an den Gesichtern, als müssten sie Gummimasken ablösen. Sie fügen sich Schmerz zu, besteigen und betreten sich gegenseitig, pendeln sich aus, zerren und reißen an den Hautlappen von Stirn, Mund, Brust und Rücken, bis rote Striemen die Leiber bede-cken. Sie befingern, beschnuppern und kratzen sich wie Flagellanten, klammern sich aneinander und klatschen gegeneinander. Ausforschen, Ertasten, Begreifen (einmal bei jemandem mit von Pflaster verklebten Augen) deutet sich als haptisch sensitiver Vorgang. Anschließend nehmen sie ihre Kleider auf, kündigen damit auch einen abgeschlossenen Vorgang an und kehren an ihren Platz an der Rückwand zurück.
Dann stürmt zu einem gespitzten »Jesus«-Ruf in extrem hoher Frequenz eine energetische Erregungsmasse vor, die sich bis zur Erschöpfung verausgabt. Aus ihrem schwer atmenden Nachhall schält sich ein Tänzer, der – jede Faser gespannt – in konvulsivischen Zuckungen ein »ecce homo«-Mahnmal liefert, zugleich selbstverliebt, selbstverloren und von Gott und der Welt verlassen. Er versucht als Junge mit den Schwefelhölzern aus einer Packung Streichhölzer ein Match zu ziehen und Feuer zu schlagen. Im Moment, da die Flamme zündet, setzt die Musik wieder ein.
Es ist, als müsse man für diese Choreografie neue Worte erfinden, Worte wie Torturisierung. Bachs Harmonien verwildern bis zum Gebrüll, bevor sich aus orientalisch anmutenden Improvisations-Bögen und Soul-Arabasken erneut eine vertraute Melodie herausbildet. Das ergreifendste Bild aber entsteht, als ein zum Weinen schöner Moment Schrecken und Staunen, den stupor mundi gebiert: Aus dem Ensemble lösen sich drei Figuren, die das »Erbarme dich« anstimmen. Darunter ein farbiger Junge im grellbunten Jesus-Shirt mit schneidend klarem Sopran. So muss sich Parzival gefühlt haben, als er seinen schwarzen Zwillingsbruder Feirefiz erstmals sah.
»Manchmal denke ich«, sagt Alain Platel später, »wir mussten dieses Stück nur machen, um den Jungen zu treffen«. Er heißt Serge, ist 19 Jahre alt und kommt aus Kinshasa. Ein Amateur als Sänger, der jetzt im belgischen Namur an der Akademie studiert.
Für Platels Suche und Sehnsucht spricht, dass Bachs Schlusschoral »Wir setzen uns mit Tränen nieder« nicht im trüben Todesdunkel endet. Vielmehr scheint sich in den Ritualen der Umarmungsgesten und des Goodbye-Sagens der Zehner-Gruppe etwas Tröstliches zu erfüllen, etwas, das in Mozarts »Zauberflöte« Pamina erfasst als »So wird Ruhe im Tode sein«. Der Vorschein einer Hoffnung jenseits der Hoffnungs- losigkeit, vielleicht far from heaven, aber dafür befreit aus dem Vakuum eines sterilen Kunst- und Illusionsraumes. Es ist, als wären die Dämonen im letzten Moment gebändigt. //
»Pitié«: Uraufführung bei der RuhrTriennale am 2. September 2008 in der Jahrhunderthalle Bochum; Aufführungen: 3., 4., 6. und 7. September 2008; Ticket-Hotline: 0700/20 02 34 56; www.ruhrtriennale.de