Weiße Krähe ist im Russischen ein Ausdruck für jemand Ungewöhnlichen, jemanden, der anders ist. Rudolf ist solch ein seltenes Tier. Der Sohn tatarischer Eltern wird 1938 in einem Zug geboren, während der Vater fern im Krieg kämpft. Der Sechsjährige geht erstmals mit seiner Mutter und den Schwestern in die Oper und versteht, dass dies sein Leben sein muss. Sprunghaft, eigensinnig und zurückgezogen an der Grenze zur Brüskierung und Revolte. »So ist er eben«, wird später eine Freundin in Paris sagen.
Ordnung, Disziplin, Unterordnung – diese Regeln sind nichts für den Ballett-Schüler Nurejew. Erst ein verständnisvoller Lehrer, der sanfte, kluge Puschkin (Ralph Fiennes), vermittelt ihm, dass tänzerische Bewegung nur ein Mittel, kein Selbstzweck ist. Dass es nicht nur um das perfekte Wie, sondern ums Was geht: Was willst Du ausdrücken?
»Wenn ich getanzt hätte, würden Sie sich daran erinnern«
Nurejew, der Nijinsky-Preisträger, den Oleg Ivenko staunenswert ähnlich verkörpert, wird das Feminine in die männliche Gestalt des Tänzers und dessen statisch fixiertes Repertoire integrieren. Sein Selbstbewusstsein wird er hinzufügen. »Wenn ich getanzt hätte, würden Sie sich daran erinnern«, sagt er stolz.
Aura, Persönlichkeit, wilde Energie – Nurejew »takes the stage«. Sprunghaft legt Ralph Fiennes auch seine Filmbiografe über den Jahrhundert-Tänzer an. Er erzählt nicht chronologisch, sondern folgt der Logik des Bewusstseins. Streiflichter, Rück-, Vor- und Abblenden: das Kind im Winter wie der einsame Junge Juri Schiwago bei Pasternak & David Lean und dann der Schnitt zum virtuosen »Corsaire«.
Flucht als Selbstverteidigung
Der Film rastet ein beim ersten westlichen Gastspiel Nurejews mit dem Leningrader Kirow-Ballett. Dass er zuvor u.a. eine endlose Tournee durch die DDR absolvieren musste, ist ausgespart, obwohl dort sein Missmut gewachsen sein dürfte. Paris wird zum Wendepunkt, zur Trennlinie: einerseits der Druck der Funktionäre, sich konform zu verhalten, nicht renitent und individualistisch zu sein; jenseits des Eisernen Vorhangs die Möglichkeit zur – künstlerischen, persönlichen, erotischen – Selbstentfaltung ohne staatliche Kontrolle und Mittelmaß.
In Paris besucht der 23-jährige Rudolf den Louvre. Er tritt morgens früh als erster ein, um allein vor dem »Floß der Medusa« zu stehen mit Géricaults dramatischem Aufbau, den entfesselten Gliedern, dem Turm der Körper. Er will alles sehen, Rembrandt, Picasso, Matisse, Rodin. Er liest André Malraux, lernt Englisch, hört Menuhin Bach spielen, bestaunt die Sainte Chapelle. Das ist seine Welt.
Als man ihn zwingen will, zurück nach Moskau zu fliegen, bittet er am Flughafen Le Bourget um politisches Asyl. Seine Entscheidung trennt den »Landesverräter« von seiner Familie und Heimat. Die Flucht sei ein Angriff gegen die Sowjetunion, urteilt ein Parteibonze. Nein, es war Selbstverteidigung.
»The White Crow«, Regie: Ralph Fiennes, GB, F, Serbien 2018, 122 Min., Start: 26. September