REZENSION ANDREAS WILINK
An einer Stelle des Romans schreibt Elio in sein Tagebuch: »Wir sind nicht für ein einziges Instrument komponiert – ich bin es nicht, und du bist es auch nicht.« Der Satz richtet sich an Oliver, akademischer Feriengast seiner Eltern in ihrer oberitalienischen Villa. Kollege seines Vaters, eines Archäologen, sieht man den attraktiven Mitt-Zwanziger aus Neuengland bei seiner Ankunft aus dem Taxi steigen, während ihn der 17-jährige Elio, zusammen mit seiner Freundin Marzia, beobachtet. »Usurpator« nennt Elio ihn amüsiert spöttisch, weil er für den Besucher sein Zimmer zu räumen hat und nach nebenan zieht. Dazwischen liegt das gemeinsam zu nutzende Bad. Sechs Wochen im Sommer 1983: dolce far niente und bonjour tristesse – sonnen, schwimmen, tanzen, musizieren, philosophieren, Ausflüge mit dem Fahrrad und für Oliver eigene und gemeinsame Studien mit Prof. Perlman. Die Familie ist jüdisch wie er, der eine Goldkette mit Davidstern trägt. Es ist das erste, was Elio auffällt.
Einmal fahren sie zum Gardasee, als dort eine römische Statue, vermutlich die Kopie einer Skulptur von Praxiteles, aus dem Wasser gehoben wird. Der Jüngling ist der kunstvolle Sendbote aus einer Epoche, in der Kaiser Hadrian seinen Antinoos liebte. Die Szene, die es im Buch nicht gibt, ist der absichtsvolle – vielleicht überflüssige – Hinweis auf die erotische Berührung, die Elio erfährt, und seine Leidenschaft, die sein künftiges Leben prägen wird (den Epilog der Vorlage spart der Film aus).
Beide, der Jüngere und der Ältere, sind schüchterner, als sie jeweils vom anderen denken, dass er es sei, und stehen in einem Spannungsverhältnis, von dem sie glauben, dass keiner es bemerkt. Aber Elios Eltern spüren den inneren Tumult ihres Sohnes und wachen still über ihn. Acimans feinsinniger Roman beschreibt wie eine Fieberkurve Elios Temperatur-Schwankungen seiner emotionalen Abhängigkeit von diesem »Usurpator«, der lässig ist, souverän, von leicht blasiertem Charme und Eigensinn, der sich gern mit einem halb verschluckten »Later« verabschiedet, um Stunden später wieder da zu sein, der sich Elio nähert und ihn doch auf Abstand hält, der ihm auf einem Zettel ein »werd’ erwachsen« hinwirft und sich auf demselben Blatt mit ihm um Mitternacht verabredet, nachdem sie sich am Nachmittag geküsst hatten. Wenn Elio noch meint, sich aus der Affäre ziehen zu können, ist er schon der Begehrende und Beschädigte. So virtuos er auf den Tasten Bach wie Liszt oder wie Busoni spielt, ist er mit all seiner Intelligenz auf der Gefühls-Klaviatur noch Anfänger.
Dieser Aufruhr des Herzens sieht aus wie ein Film von James Ivory, der ihn auch produziert und am Drehbuch mitgewirkt hat. Man könnte sagen, der Regisseur von »Call me by your name« tut nichts zur Sache. Und könnte sagen, das Anwesen der Perlmans hat viele »Zimmer mit Aussicht«. Wir werden durch die schmerz- und lustintensive Romanze gemächlich, kultiviert, manchmal etwas genießerisch lüstern, dezent in der Darstellung des Sexuellen, sanft-empathisch in der Bekundung der Trauer gelenkt. Die mittagsmüde mediterrane Schönheit stellt jede Regung wie unter ein Brennglas. Auch wenn Timothée Chalamet als Elio und Armie Hammer als Oliver Idealbesetzungen sind, auch wenn dem Film kein Vorwurf zu machen ist, erreicht er nicht die literarischen Nuancen auf der Empfindungs-Skala. Ein Beispiel. Einmal zeigt die Kamera im Schnittwechsel Olivers drei Badehosen: rot, gelb, grün. That’s it. Im Buch hingegen verbindet Elio mit jeder Farbe eine andere, gewissermaßen empirisch ausgeforschte Stimmungslage Olivers. Für den, der liebt, bedeutet noch das Geringfügigste Zeichen und Sinn in der Grammatik der Gefühle.
»Nenn mich bei deinem Namen«; Regie: Luca Guadagnino; F / I / USA / Brasilien; 135 Min; Start: 1. März 2018