TEXT: ANDREAS WILINK
Christliche Werte – Zwang. Das müsste sich ausschließen. Das eine sollte es sein, das andere war es. Bis in die 1970er Jahre. Wir sind im Jahr des Herrn 1968, als die Studentenrevolte der Gesellschaft neue Regeln im sozialen Miteinander abtrotzt und den Generationenvertrag aufkündigt. Wolfgang (die Filmfigur wurde nach Gesprächsaufzeichnungen Wolfgang Rosenkötter nachempfunden) wird ins niedersächsische Diakonie-Heim Freistatt verbracht, einer Außenstelle der Bodelschwinghschen Anstalten. Dem Stiefvater (Uwe Bohm) war der Halbwüchsige lästig, weil er den zwei eigenen Kindern Platz wegnimmt, die liebende, aber schwache Mutter ergreift nicht Partei für ihn.
Freistatt, geleitet von einem Hausvater (Alexander Held, ein Gartenfreund von sanfter Gemeinheit) und seinen Aufsehern, hat mit Pädagogik nichts zu tun. Es ist die Perversion protestantischer Ethik. Lernen tun die Jungen nichts, außer Befehlen Folge zu leisten. Sie werden auf Biegen und Brechen abgerichtet, blutig geschlagen und gequält, müssen schuften wie Arbeitssklaven und »Moorsoldaten«, die täglich zum Torfstechen ausrücken. Es ist Ausbeutung in einer brutalen Strafanstalt, wo die dem Heim anvertrauten Zöglinge mit dünner Suppe abgespeist werden, während die »Erzieher« gehäufte Teller mit Fleisch und Gemüse vorgesetzt bekommen. Wolfgang (fulminant: Louis Hofmann) wider-setzt sich, zuerst allein gegen alle, bis irgendwann, viel zu spät, die gesamte Gruppe sich solidarisiert, »Freedom« fordert und im Chor singt »Sometimes I feel like a motherless child«. Doch jede Rebellion scheitert, jeder Fluchtversuch endet mit Rückkehr und härterer Bestrafung. Einer der verlorenen Junge erhängt sich, andere ducken sich wenig, resignieren, klammern sich in verzweifelter Liebe an einen pädophilen »Bruder« – Krapp (Max Riemelt). Wolfgang wird fast zu Tod kommen – und gebrochen. Als er Freistatt verlässt, gibt es für sein Empfinden auch kein Elternhaus mehr. Er kehrt nicht zurück.
Regisseur Marc Brummund gibt an, Vorbilder für ihn seien Filme gewesen wie Truffauts »Sie küssten und sie schlugen ihn«, Frankenheimers »Der Gefangene von Alcatraz« und Barry Levinsons »Sleepers« – Plädoyers gegen das Justizsystem von Überwachen und Strafen. Die bedrückende, noch junge Realität der auf Recherche basierenden, an Originalschauplätzen gedrehten Geschichte (das heutige Freistatt stellt sich seiner Vergangenheit) lässt einen selbst wie geprügelt das Kino nach zwei emotionalen Lehrstunden verlassen.
»Freistatt«; Regie: Marc Brummund; Darsteller: Louis Hofmann, Alexander Held, Stephan Grossmann, Katharina Lorenz, Max Riemelt, Mark Bohm; D 2015; 104 Min.; Start: 25. Juni 2015.