An der Stirnseite des Speisesaals wacht sie über ihr Geburtshaus: Annette von Droste-Hülshoff, schmales, von ondulierten Haaren eingefasstes Gesicht, das Kleid farblich passend zum Blau der Augen, die verträumt am Betrachter vorbeischauen. So malte Johann Joseph Sprick im Jahr 1838 die Frau, deren Novelle »Die Judenbuche« heute zur Schullektüre zählt. Der Geist der Dichterin beseelt Burg Hülshoff bis heute. Das bei Havixbeck, rund zehn Kilometer entfernt von Münster gelegene Anwesen bietet einen für Geister nahezu idealen Lebensraum. Ein prächtiger Park und ein ebenso stattlicher Graben trennen es vom Rest der Welt. Draußen halten krächzend Dohlen Wacht, drinnen knarzen die Dielen und klappern die Ritterrüstungen. Eine Ahnengalerie von einschüchternder Größe verteidigt die Geschichte gegen die Gegenwart, und über die Droste-Ausstellung im Hochparterre hat sich mit den Jahren ein bisschen Staub gelegt. Davon ernähren sich bekanntlich Gespenster.
»Das Schöne, die Tradition und die Ahnen sind da. Jetzt müssen wir so ein bisschen die Gespenster, die die Ahnen ja auch sind, mit einbeziehen und deutlich machen, wo die Kluft zwischen gestern, heute und morgen verläuft«. Das sagt der Mann, der diese Festung ordentlich durchlüften soll. Dafür ist Jörg Albrecht aus Berlin angereist. Seit Anfang Februar darf sich der Schriftsteller »künstlerischer Leiter« von Burg Hülshoff nennen. Doch der 1981 in Bonn geborene, in Dortmund aufgewachsene Albrecht wird viel mehr sein müssen als das. Immerhin gilt es, die Burg zu einem »interdisziplinär ausgerichteten Museums-, Lern-, Residenz- und Veranstaltungsort« auszubauen, oder kulturpolitisch formuliert: zu einem »kulturellen Leuchtturmprojekt«. Bevor dieser Turm über das Münsterland hinaus leuchten kann, ist Albrecht allerdings erst einmal als Manager einer der ambitioniertesten Kulturbaustellen des Landes gefragt.
»Für mich ist das hier erst mal eine riesen Spielwiese«, sagt Albrecht, angesprochen auf die Herausforderungen, die vor ihm liegen. »Also erst mal loslegen und schauen«, so geht er die Sache an. Vielleicht keine schlechte Haltung, wenn man bedenkt, was auf ihn wartet. In den kommenden Jahren werden mehr noch als die programmatischen Fähigkeiten seine Improvisationskünste gefragt sein. Denn das Zentrum, dem Albrecht mit seinem Programm Profil geben möchte, muss erst noch gebaut werden.
Dafür soll die Vorburg umgestaltet und ein Platz für eine Gästeunterkunft gefunden werden. Ein Lyrikweg und ein literarischer Landschaftsgarten wollen angelegt werden. Und das Droste-Familienmuseum soll Albrecht auch noch zeitgemäß aufstellen. Der erste Spatenstich für das 7,6 Millionen teure Umbauprojekt wird vor 2019 kaum erfolgen können. Wenn dieser Teil des Umbaus vollendet sein wird, werden dann auch die Studenten des Studiengangs »Literarisches Schreiben« auf Burg Hülshoff unterkommen, die die Kölner Kunsthochschule für Medien für ein Semester ins Münsterland schickt. Auch dieser Kooperation wird Jörg Albrecht Kontur verleihen müssen.
Als sich im Herbst 2012 die Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung gründete, ging es darum, die Burg für die Öffentlichkeit zu retten. Das malerische Anwesen scheint wie gemacht für die Bebilderung von Werbebroschüren teurer Hotels. Entsprechende Begehrlichkeiten weckte die Immobilie damals bei privaten Investoren. Unter Federführung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe und mit Hilfe von über 20 Stiftern gelang es dann, 19,3 Millionen Euro Gründungskapital zusammenzubekommen und Jutta Freifrau von Droste zu Hülshoff davon zu überzeugen, die Burg samt Ländereien in die Stiftung einzubringen.
Wie öffnen wir die Burg? Das ist die Frage, die Albrecht zurzeit umtreibt. Für ihn ist das weniger eine bauliche als eine programmatische Herausforderung. »Es sollen Leute aus ganz unterschiedlichen Sprachen und Kulturen hier zusammenkommen, auch aus den Kulturen Stadt und Land, die ja immer als Gegensätze verstanden werden.« Diesen Gegensatz will Albrecht schon in diesem Herbst mit einem literarischen »Double Feature« reflektieren. Dafür hat er mit Saša Stanišić und Jan Brandt zwei Kollegen eingeladen, die jeweils ein Dorf zum Schauplatz ihrer Romane »Vor dem Fest« und »Gegen die Welt« gemacht haben. Gemeinsam mit Videokünstlern, Musikern und einem lokalen Chor sind Stanišić und Brandt eingeladen, ihre Romane in »transmedialen Lesungen« vorzustellen. Hier schon zeigt sich, dass im literarischen Zentrum Burg Hülshoff unter Albrechts Leitung künftig mit dem Format »Lesung« experimentiert werden soll. »Einfach zu sagen: ›Setzt Dich hin, lies und dann gehen wir noch zusammen essen‹, so wie es bei einer normalen Lesung der Fall ist, das ist für diesen Ort zu wenig«, sagt Albrecht, der beim Klagenfurter Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis einst mit verzerrter Stimme und Kopfhörern aufgetreten ist.
Mit dem eigenen Werk hat Jörg Albrecht sich geradezu als Idealtypus des Kulturmetropolenbewohners ausgewiesen. In gediegen-konventionellem Sinne erzählt hat er in seinen Romanen nie. Mal zappt er sich durch die Geschichte der deutschen Raumfahrt, dann wieder rechnet er mit den falschen Glücksversprechen der Kreativwirtschaft ab. »Auf Power schalten«, so beginnt Albrechts 2006 erschienenes Romandebüt »Drei Herzen«. Und auf Power schalten will Albrecht jetzt auch Burg Hülshoff, mit einem zeitgenössischen Programm, das – direkt oder auf
Umwegen – immer auch Verbindungen zum Denken Annette von Droste-Hülshoffs suchen wird. Einige außergewöhnliche Ideen hat Albrecht bereits: Lyrikabende in Gebärdensprache zum Beispiel, begehbare Hörspielräume. Auch die Frage, wie die Digitalisierung die Literatur verändert, möchte Albrecht sich und dem Publikum stellen. So wie er als Autor von Anfang an versucht hat, sich schreibend auf der Höhe der Geräte zu bewegen. Für September plant der Schriftsteller ein Volksfest, einen literarischen Jahrmarkt. Dabei darf man davon ausgehen, dass er das Publikum nicht mit oberflächlichem Bling Bling und billigen Showeffekten unterhalten möchte. Denn der literarische Mainstream war nie seine Sache. Umso beachtlicher, dass die Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung Jörg Albrecht zum Gründungsdirektor gewählt hat. Denn diese Entscheidung zeigt, dass kulturelle Leuchttürme im Münsterland auch als Labore vorstellbar sind, in denen kräftig experimentiert werden darf.