»Am Rand der bewohnbaren Welt« nannte Georg Stefan Troller seinen Dokumentarfilm über Arthur Rimbaud. »Total Eclipse« wiederum heißt Christopher Hamptons Drehbuch über die unmäßige, von Absinth und Opium durchgorene amour fou von Rimbaud und Verlaine. Der Rand der bewohnbaren Welt ist für Rimbaud der dunkle Kontinent Afrika, der Weg dorthin jedoch weniger eine fortwährende Reise ins Herz der Finsternis, als eine ins gleißende Licht, bei der die Sonne wilde Triebe und Begehrlichkeiten austrocknet. Rückkehr wäre der Tod.
Michael Roes hält es nicht ‚daheim’ – schon das falsche Wort! Heimat ist ihm das fremde Terrain, das Unvertraute für ihn nicht unheimlich, sondern Lockruf. »Das leere Viertel« der Wüsten, Nordafrika, der Jemen, das Israel der Bibel und der Gegenwart, das Amerika seiner mit dem Magischen verbundenen Ureinwohner, hier nun Abessinien. Wenn er in seinen Breiten bleibt, findet er eine andere Temperatur auf der Empfindungsskala, wie in »Zeithain«, dem Roman über den großen König Friedrich und seinen bis zum Henkerstod getreuen Katte: Preußen als Kältezone.
Es sind um einiges mehr als 20 Bücher des Schmerzes, der Sehnsucht, der Freiheit zur Lust – darin grenzenlos und unstillbar. »Immer ist es jener, den man liebt, der einen am Ende davonjagt.« In »Der Traum vom Fremden« findet Roes in dem französischen poète maudit mit seinem die Moderne einleitenden Wort »Ich ist ein Anderer« wiederum einen Wahlverwandten: als historische Gestalt und Fantasiefigur. Rimbaud, Mitte 20, hat nach verschiedentlichen Fluchtbewegungen die französische Provinz und seine Bohème-Existenz liebend gern – obgleich Großstadtmensch – vertauscht mit den extremen und gefährlichen Sinneseindrücken der Tropen, mit »schwarzer Liebe und Savannenflaum«. Nur fort von Enge, Mittelmaß, Stumpfsinn, erotischer Konfusion und Künstler-Kult, jedoch nicht vom ‚Prä’ des Körpers. Zunächst Legionär, lebt er unterdessen als homo faber, Händler und Forscher in Harar. Poesie des Praktischen und Asketischen.
Eigensinnig und gedankenscharf
Roes’ eigensinniger, gedankenscharfer, Wort um Wort wägender Sprachstil führt als Last immer reichlich Bildungsgut mit, aber lässt sie dem Leser leicht werden dank seiner Originalität. Da heißt es etwa über den Kaufmann Brémond, er sei »wohlgenährt wie die Zoten Rabelais’, bei näherem Hinsehen aber blutleer wie die Prosa de Sades«. Brémond ist einer von Rimbauds Reisegefährten neben dem Diener und Vertrauten Djami, Missionaren nebst anderen auf der Expeditions-Karawane des Jahres 1883, um seinen Kompagnon und Gefährten Constantin Sotiro aus Geiselhaft zu lösen, und, nach dem Gelingen, ihrem gemeinsamen Rückweg nach Harar.
Rimbauds Charakter formt sich bis in kleinste Kerbspuren zum Porträt, das Rimbaud gewissermaßen von eigener Hand verfasst, in dem Roes, gegliedert in sechs Cahiers, ein literarisches Vexierspiel mit dem Tagebuchgenre, dem Selbstgespräch und der Selbstbespiegelung seines Helden spielt. Sein Rimbaud deutet sich selbst als »Akrobat, der den Absturz liebt«, beargwöhnt nicht ohne Selbstekel eigene Lebensentscheidungen, wütet gegen seine Schreibakte und ihren »Vernichtungswillen« und die »Wortschmiede« des Mundwerkzeugs. Er schaut zurück auf die kleinbürgerliche Kindheit, die Mutter-»Päpstin« und Geschwister und seine Exzesse in Paris, kniffelt an den unlösbaren Beziehungsknoten, notiert ethnologische Beobachtungen und treibt durch seine von tiefer Skepsis geprägten Gedanken – auf Suche nach der großen friedvollen Gleichgültigkeit im Angesicht des Universums und Zeitenlaufs.
Die Doppeldeutigkeit des Titels – als Fehl-Fantasie und Wunschziel – ruft die Idee der Fata Morgana auf, deren Erscheinung nicht von ungefähr erstmals in diesen Breiten registriert wurde: sieben Jahre nach Rimbauds Tod in der Hafenstadt Marseille.
Michael Roes, »Der Traum vom Fremden«, Roman, Albino Verlag, Berlin, 2021, geb. 258 S., darin enthalten Arthur Rimbauds Originalbericht »Rapport sur L’Ogadine«, 22 Euro.