TEXT: KATJA BEHRENS
Im kommenden Jahr, 2012, feiert Wiesbaden seine Fluxus-Geschichte. 50 Jahre ist es her, dass der US-amerikanische GI George Macunias, der in Wiesbaden stationiert war, ebendort Fluxus ins Leben hob. Oder besser gesagt, mit seinen Fluxus-Aktionen das Leben in die Kunst einließ. Jetzt war das Publikum nicht mehr bloß passiver Zuschauer, sondern wurde ein Teil der Kunst. Einer Kunst, die das Kunstwerk als statisches Objekt vom Sockel, von der Wand und aus der Vitrine und es stattdessen auf die Straßen holte. Mit der stummen, ehrfurchtsvollen Andacht im hell ausgeleuchteten Galerieraum war es von nun an vorbei. Es gab Musik und Lärm, Diskussion und Zigarettenqualm.
Macunias rief seine Künstlerfreunde aus den USA in die hessische Kleinstadt. Unterdes hatte Arthur Koepke mit seiner Frau, der Komponistin Tut, auch in Kopenhagen einen Ausstellungsort ins Leben gerufen, der schnell zu einem Hot Spot jener Avantgarde wird, die sich bald wie ein Lauffeuer verbreitet. So kommt die internationale Fluxus-Bewegung, die sich um 1960 in New York und Tokio, in den europäischen Städten Wiesbaden, Wuppertal, Kopenhagen, Paris, Köln, Düsseldorf, Amsterdam, Den Haag, London und Nizza formiert und verbreitet, irgendwann auch in Aachen an.
Am 20. Juli 1964 lädt Valdis Abolins, Kulturreferent des AStA der Technischen Hochschule Aachen, zum »Festival der Neuen Kunst« ins Aachener Audimax ein. Joseph Beuys, Wolf Vostell, Bazon Brock, Nam June Paik, Arthur Koepcke und viele andere sind zur Stelle, und am Ende des Abends steht das Audimax auf dem Kopf. Die Ausstellung »Nie wieder störungsfrei! Aachen Avantgarde seit 1964« im Ludwig Forum setzt sinnvollerweise ein mit den rekonstruierten Filmaufnahmen dieses inzwischen legendären Abends. Wir sehen Wolf Vostell mit Gasmaske vor dem Gesicht agieren, wir sehen Charlotte Moorman im dünnen Kleid und mit Cello, Nam June Paik sitzt mit nacktem Hintern am Klavier (oder gehört der jemand anders?), Franz Erhard Walther springt über die Hörsaaltische und -bänke und versprüht Tannenduft. Joseph Beuys schüttet Waschpulver ins Klavier, Arthur Köpcke zeigt Aktbilder und Landkarten, Robert Filliou hantiert mit einem falschen Arm wie ein verrückter Professor mit seinem Zeigestock. Bazon Brock hat einen Pfeil auf eine Tafel gemalt, daneben steht »CLIMB UP«. Korngarben und ein Hund im Hörsaal, Pfiffe und Protestgeschrei.
Wir sehen einen theatralisch konzentrierten Joseph Beuys reden, später wird er noch die Faust eines empörten Studenten ins Gesicht bekommen. Er erwidert den Schlag mit einem Aufwärtshaken, hält sein »pneumatisches Kreuz« (ein auf einen zusammenpressbaren Sockel montiertes Kruzifix) vor sich und hebt den anderen Arm deklamatorisch in die Höhe. Das Blut rinnt ihm aus der Nase. Was für ein Bild! Ohne Spiegel und ohne Skript vermag Joseph Beuys den Zwischenfall in ein ikonisches Bild zu seinen Gunsten zu verwandeln: der Künstler, mit blutender Nase und hoch gerecktem Arm, wird zum Symbol jener experimentellen Bewegung, die die Kunstwelt aufrüttelt, er wird zum Sinnbild einer neuen, irgendwie kämpferischen Kunst, einer Kunst, die nicht vor dem Leben zurückschreckt. »Am Anfang war nicht das Wort, am Anfang war das Abenteuer«, ist irgendwann zu hören.
Wir sehen Tut Koepke singen und lachen, ein junger Mann bläst Rauchkringel in die Luft. Irgendwann später wird auch diskutiert, Argumente und Sichtweisen für und gegen Sinn und Bedeutung von Fluxus werden hin und her geschoben. Ein Ergebnis ist nicht in Sicht.
Politische Aspekte und Ereignisse wie die Kuba-Krise, der Vietnamkrieg, die Ermordung John F. Kennedys und Martin Luther Kings, der Kalte Krieg, die Teilung Deutschlands und nicht zuletzt die Konsumgesellschaft als solche spielen eine zunehmende Rolle in einer künstlerischen Bewegung, die nicht mehr das museale Objekt, sondern vielmehr die Aktion in den Mittelpunkt stellt. Zertrümmerte Musikinstrumente, Pappskulpturen, Löffel oder getragene Kleidungsstücke werden zu Werken, deren Entstehungszusammenhang Teil ihrer Aura ist. Und immer wieder die kritische Beteiligung der Zuschauer. Das flüchtige Ereignis, die humorvolle Untersuchung der Denk- und Wahrnehmungsmuster, die versteckte Poesie oder der Schrecken alltäglicher Geschehnisse und Dinge: Zwei bemalte Männer, zwei ausgestopfte Dromedare, ein Hakenkreuz, ein Haufen zusammengeknüllter schwarzer Papierbögen. Bunte Geometrie, gelbe Babys, Monitore, kreischende Erdhaufen, grau verwischte Stadtansichten, bunter, ästhetischer Trash.
Die politischen Implikationen und gesellschaftspolitischen Ansprüche der Fluxus-Teilnehmer ebenso wie ihre experimentelle Ästhetik indes überfordern das Publikum oft genug, die Zeitungsartikel an der Außenwand der Aachener Ausstellungsräume dokumentieren dies aufs Schönste: Unverständnis, Empörung, Zorn, Hilflosigkeit. »Erkennbares wird rar«, heißt es in einer Feuilleton-Kritik zu einer vorzeitig abgebrochenen Vorführung eines Underground-Filmprogramms der Kölner Experimentalfilmer Birgit und Wilhelm Hein. »Keine Handlung, keine Story, keine Darsteller.«
Dennoch gründen sich in den folgenden Jahren zwei freie Ausstellungsorte in Aachen, die bald zu einem Treffpunkt der Künstler, Studenten und Kunstinteressierten wurden: die Galerie Aachen und »Gegenverkehr – Zentrum für aktuelle Kunst«. Hier »wurde eine gute Ausstellung nach der anderen gemacht.«. Und hier finden die aktuellen Kunstströmungen eine Heimat, die Avantgarde einen Treffpunkt. Letztendlich gelingt es der Galerie also doch, mit Ausstellungen, Lesungen, Filmvorführungen und Musikdarbietungen viele Aachener Bürger an sich zu binden. Die, im Vorfeld der Ausstellung befragt, hatten denn auch Einiges (her)beizutragen: Einladungen, Plakate, Bilder und andere Objekte, Foto-, Film- und Tonmaterial, Erinnerungen. Ohne die erneute Beteiligung der Aachener, so Annette Lagler, mit Myriam Kroll Kuratorin der Ausstellung, hätte vieles Wichtige gefehlt.
Derweil hatten Peter und Irene Ludwig begonnen, in großem Stil zeitgenössische Kunst zu sammeln, die sie 1968 erstmals ausstellten: Roy Lichtenstein, Allen Jones, James Rosenquist, Andy Warhol, Tom Wesselmann, Nancy Graves und andere. Mit der Pop Art hielt nun ein anderer Aspekt des Lebens Einzug in die Kunst, Werbung und Konsum. Die 1970 von den Ludwigs eröffnete Neue Galerie ist eines der ersten Museen, die sich ausschließlich der zeitgenössischen Kunst widmen.
In der heutigen Präsentation »Nie wieder störungsfrei!« des Ludwig Forums gibt es leider zu viel Platz. Alles ist geordnet, alles deutlich erkennbar, die historische Distanz zu jener wilden Zeit schlägt sich in den Ausstellungsräumen nieder – das ist ein bisschen schade! Alles Raue wirkt auf einmal glatt, das Regime des Museums ist zurück. Die wunderbare Unübersichtlichkeit der Happening- und Fluxus-Events, das Herumgerenne, der Lärm, das vielstimmige Diskutieren und übereinander-hinweg-Agieren kommt allein in den Videoaufnahmen vor. Gut, dass wenigstens bei dem rekonstruierten Film des Festivals Bild- und Tonspur ein wenig auseinanderklaffen. Hier endlich vermittelt sich das Provisorische und Unperfekte, das Dissonante jenes Ereignisses, und, die dennoch absolute Überzeugtheit der Beteiligten. Fluxus war schließlich auch ein Lebensgefühl.
Bis 5. Februar 2012. www.ludwigforum.de