„…aber bleib zeitgenössisch“, ruft Enis Turan dem tanzenden Jordan Gigout zu. Vorher forderte er: „Kein Floorwork“, „offene Augen“, „halte Kontakt zum Boden“. Mit jeder Anweisung werden Gigouts Bewegungen hektischer, zappeliger. Der Tanz scheint zu diesem Zeitpunkt längst aus der Bahn geraten zu sein. Begonnen hat die erste abendfüllende Arbeit der Folkwang-Absolventin Marie-Lena Kaiser so feinsinnig, wie es der Titel „Ariodante“ vermuten ließe. Die Zuschauer sitzen im Kreis um eine ebenerdige Spielfläche, an den vier Eingängen warten die Tänzerinnen und Tänzer auf ihre Auftritte.
Zuerst geht Ying Yun Chen in die Mitte, die mit einem Kreuz markiert ist. Zur Cembalo-Musik von Friedemann Brennecke – unter Verwendung zweier Barockwerke von Giovanni Valentini und Giles Farnaby – beginnt sie ein Solo. Ruhig, detailliert bis in die Finger- und Fußspitzen, ganz der Bewegungssprache des modernen Tanz verhaftet. Mit dem Ende der Musik verlässt sie die Mitte. Es folgen in ähnlicher Art Solos von Clemence Dieny und Enis Turan. Konzentriert, technisch auf hohem Niveau ist das, aber auch spröde und etwas geschmäcklerisch.
Dann ist Gigout dran. Wie die anderen steigt er ein, doch verliert er schnell die Kontrolle, wird ungenauer und wie entfesselt, schlaksig fliegen Arme und Beine, schließlich können die anderen nicht umhin, nacheinander zu ihm zu treten, ihn innehalten zu lassen und flüsternd zur Räson zu bringen. Es hilft nur nichts. Gigout tanzt, ohne auf die Technik Rücksicht zu nehmen, jede hübsche Konvention des modernen Tanzes, wie Jooss, Leder, Limón, Cébron und Bausch ihn gedacht haben, hinter sich lassend.
Drei gegen Gigout
Es folgt jener Teil, in dem sich alle vier gegenseitig korrigieren. Plattitüden wie „sei du selbst“ und „bleib authentisch“ werden gesagt. Und schließlich eskaliert alles in einem Streit über die Frage, ob „Kreis“ und dann „Brezel“ kommt oder anders herum. Drei gegen Gigout: „Ich bin der Choreograph. Ich bin Marie-Lena Kaiser.“ Da bleibt nur noch eine Rettung, Gigout muss hingerichtet werden.
„Ariodante“ ist eine sehr komische, manchmal auch alberne Auseinandersetzung mit dem modernen Tanz. Mit esoterischen Klischees vom Verhältnis zwischen Raum, Zeit und Körper, von Authentizität und Ehrlichkeit. Mit dem ganzen aufgeblasenen Gedankenwust, den es brauchte, um dem Tanz Halt zu geben, nachdem er zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der militärischen Technik des Balletts befreit worden war. In die totale Freiheit einer Isadora Duncan, musste irgendwie ein neues System implementiert werden. Es wurde darin gefunden, wie Raum und Zeit, Boden und Körper gefühlt werden sollten. Bis heute setzt sich diese Technik des „richtigen“ Fühlens in der Ausbildung und der Choreographie fort. Bis hinein in den zeitgenössische Tanz und in die Performance, wenn es immer wieder um Authentizität auf der Bühne geht, darum, dass die Tanzenden „sie selbst“ bleiben müssten, selbst wenn ihnen gerade noch zugerufen wurde: „Ja, du bist eine perfekte Linie im Raum.“ Auch der Tanzkritiker selbst fühlt sich ertappt, denn ganz sicher haben sich auch in seine Texte irgendwann einmal solche wabernden Formulierungen geschlichen.
Marie-Lena Kaisers Choreographie „Ariodante“ ist dabei nie zynisch oder boshaft. Der Witz bleibt immer augenzwinkernd, denn viel zu genau weiß die Künstlerin, dass sie selbst in ihrer Arbeit immer wieder auf diese Techniken der Empfindung zurück greift, dass die gesamte Qualität ihrer Tänzer daher kommt, dass sie gelernt haben, selbst die hohlste Phrase noch durch ihre Bewegung mit Sinn zu füllen.
Termine unter: www.marielenakaiser.com