»Das Erleben, Denken und Handeln von Individuen wird in der theoretischen Perspektive der system-theoretischen Soziologie gleichwohl nicht in den sozialen Systemen, sondern in ihrer Umwelt verortet.« Da ist er wieder: der gute, alte Niklas Luhmann-Sound, der immer dann aufgedreht wird, wenn selbst die musikalische Praxis wenigstens ein paar Konturen bekommen soll. Denn eindeutig ist schließlich schon lange nichts mehr.
Was noch bis vor kurzem banal mit »Cross- over« etikettiert wurde, ist längst derart über sämtliche Genre-Ufer getreten, dass Erklärung und Orientierung not tut. Und so wird auch im Programmheft zu dem diesjährigen Musik-Festival »open systems« kräftig und essayistisch an den diskursiven Stellschrauben gedreht, um sich halbwegs fundiert in den Grenzbereichen zwischen Komposition, Elektronischer Musik, Tanz, Performance und Installation zurechtzufinden.
»open systems« – das sind »Phänome des Performativen«, »prospektive bis fiktionale (Bewusstseins-)Wirklichkeitsrepräsentationen«, »Möglichkeitsräume«. Oder »open systems« ist, wie es schon bei der Festival- Ausgabe 2002 zu lesen war, schlicht ein »Kommunikationsprinzip«. Aus dem Mund des künstlerischen Leiters Karl-Heinz Blomann klingen all diese Definitionsversuche dann doch wesentlich entspannter: »Wir wollten ein Konzept entwickeln, das auch die Auseinandersetzung mit anderen Musikstilen sucht.« Jazz und Pop, elektroakustische Live- Improvisation und exakt auf Notenpapier fixierte Neue Musik-Parameter, pure Tonalität und arabisches Klang-Dekors – in den »open systems 2005« verläuft an vier Tagen (17.-20.November) so ziemlich alles ineinander, werden in Konzert-Dialogen Musiker aufeinander losgelassen, die sich bis dahin nur vom Hörensagen kannten.
Radikal neu oder gar subversiv scheint dieses Festival-Gepräge auf den ersten Blick nicht zu sein. Ein Blick in nationale und internationale Nachbarschaft reicht aus, um auf ähnlich heterogen angelegte Meetings zu stoßen. Beim Berliner »Märzmusik«-Festival oder bei den Straßburger »Musica«-Wochen, in Amsterdam oder vor der Haustüre beim Moers-Festival hält man sich schon lange nicht mehr an musikalische Reinheitsgebote.
Womit die Lust an der musiksprachlichen Reaktionsschnelligkeit und Vielseitigkeit geradezu einen Musiker-Tourismus geboren hat, bei dem auf Dauer das Staunen in erfolgsgarantierende Routine umschlägt. Das registriert nicht zuletzt auch Karl-Heinz Blomann, der für »open systems« bis nach New York überall seine Ohren reinsteckt: »Mit ständig sinkendem Budget steigt proportional das Sicherheitsdenken der Veranstalter.« Für »open systems« fließen die finanziellen Mittel zwar erfüllen könnte. Mit den 150.000 Euro (ein Drittel davon kommt vom Land NRW) und dank der Kooperation mit den »november«- Festivals in Belgien und Holland sowie mit der »Gesellschaft für Neue Musik« in Luxemburg sind genügend Risiken möglich und vor allem gewollt. Für das seit 1997 jährlich veranstaltete und seit 2003 alle zwei Jahre auf die Beine gestellte Festival, das traditionell in den vier Ruhrgebietsstädten Bochum, Dortmund, Essen und Herne stattfindet, greift man daher bei den Künstlern nur maßvoll auf den publikumswirksamen Promi-Faktor zurück.
Mit dem englischen Arditti String Quartet hat man immerhin das schlechthin ausgeschlafendste Ensemble für zeitgenössische Kammermusik mit Uraufführungen betrauen können. Und während mit dem amerikanischen Gitarristen und Sänger Arto Lindsay einer der doppelgesichtigsten Wanderer zwischen Rock, Jazz und Worldmusic gastiert, ist der Free-Style-Vokalist David Moss nach 2002 erneut mit dabei.
Im weltweiten Festival-Betrieb mit Avantgarde- Anspruch sind diese Formationen und Solisten natürlich Dauergäste. Und doch stehen ihre geplanten Auftritte nun stellvertretend für die Grenzüberschreitungen von »open systems«, mit denen neue Zugänge und Begegnungen umgesetzt statt altbekannte Pfade beschritten werden sollen. Die von den Ardittis erstaufgeführten Stücke stammen von drei Komponisten aus dem Dreiländereck Deutschland-Belgien-Niederlande, die in ihren Heimatländern bislang nur den Insider-Zirkeln der Neuen Musik ein Begriff sind. Und welche extrem unterschiedlichen Flieh- und Gravitationskräfte allein im Stimmenfach herrschen, wenn innerhalb von nur zwei Tagen eben Arto Lindsay und David Moss sich auf exklusive Konstellationen einlassen, hat kaum mehr etwas mit verlässlicher Buntheit zu tun. Auf der einen Seite trifft das Berliner Zeitkratzer-Kollektiv mit seinen expansiven Sounds von Hardrock bis Elektronik auf das fast genießerisch sanfte Vokal-Melos Arto Lindsays, der allein von seinem fliegengewichtigen und blassen Äußeren her der absolute Gegentyp zu David Moss ist. Dieser Stimmartist holt im Zusammenspiel mit dem Gitarristen Michael Rodach so viele gutturale Effekte, Pointen und Überraschungen aus seinem mächtigen, hedonistisch gepflegten Resonanzkörper, dass das gemeinsame, bereits auf CD veröffentlichte Projekt »Fragmentary Blues« ein weiteres Mal uraufgeführt wird.
So sehr »open systems« mit diesen Leuchttürmen der Szene auch seine internationale Wertigkeit erhellt (laut Blomann reisen Musik- Journalisten selbst aus Los Angeles an), so versteht man das Festival auch als Quintessenz dessen, was Blomann in Zusammenarbeit mit regionalen Initiativen und Veranstaltungsorten seit Jahren auf die Beine gestellt hat. Der Dortmunder »MeX«-Verein, die Essener »Gesellschaft für Neue Musik Ruhr« oder die von Blomann betreuten Flottmann-Hallen in Herne hegen und pflegen mit ihren Konzerten und Festivals die musikalischen Randbezirke, sortieren das Klang-ABC regelmäßig um. Kaum verwunderlich ist es daher, dass diese Impulsgeber zum festen Programmstamm gehören und man darüber hinaus die Ruhrgebietsachse in die Planung mit einzieht. In dem »Composers Club Local« stellen Studenten der Folkwang- Hochschule aktuelle Kreationen vor, erinnert Blomann mit seinem akustischen Zeitzeichen »Mahler Warm Up« an die Uraufführung von Gustav Mahlers 6. Symphonie vor 100 Jahren in Essen. Und das Ensemble Bracelli, das sich aus Musikern der Sinfonieorchester Bochum und Dortmund zusammensetzt, bringt als Welt-Premiere die Partituren »Toot Suites« und »Organ Books« von Louis Thomas Hardin zur Aufführung – dieser Ikone der amerikanischen Postmoderne, der unter dem Künstlernamen »Moondog« von 1974 bis zu seinem Tod 1999 in Oer-Erkenschwick (bei Recklinghausen) lebte und arbeitete.
Die Einbindung der Region in das, was Blomann »most outside experimental music « nennt, macht aber selbst vor den Schultoren nicht halt. »Stadt, Land, Fluss – Neue Klänge aus dem Lebensumfeld Emscher« heißt das im Juni angelaufene und am 19.November präsentierte Projekt, das die Geschichte und Renaturierung der Emscher in den Mittelpunkt stellt. Schüler aus allen beteiligten »open systems«-Städten erarbeiteten mit acht Komponisten 15-minütige Werke nach einer von Blomann zusammengestellten Klangdatenbank mit Interviews und Soundfundstücken von der Emscher. »Die Schüler konnten plötzlich selbst Geräusche von Klärund Pumpwerken schöpferisch umsetzen.« Scheint damit vielleicht schon das potentielle »open systems«-Publikum von morgen heranzuwachsen, sieht Blomann grundsätzlich das Festival als Bodensatz für die Arbeit der Konzerthäuser in Dortmund und Essen.
»Wir erbringen eine Vorleistung«, von der sogar die RuhrTriennale profitieren könnte.Und tatsächlich gab es bereits schon im ersten Jahr von Triennale-Intendant Gerard Mortier Gespräche und Ideen, »open systems« einzubinden.
Ob sich das unter der Ägide von Jürgen Flimm irgendwann realisieren lassen wird, steht derzeit für Blomann genauso noch in den Sternen, wie die Zukunft des Festivals überhaupt. Aber der aus der Computerwelt entlehnte Begriff »open systems« meint schließlich die Dynamik und das Zusammenspiel verschiedener Produzenten, um gemeinsam Lösungen zu finden. Blomanns Übersetzung ist da noch konkreter: »›open systems‹ ist das Gegenteil von Closed Shop.« //
www.festival-open-systems.de