TEXT: ULRICH DEUTER
Die Straße Schwiesenkamp begrenzt die kleine Werthacker-Siedlung nach Süden, zum Wald hin. Einfamilienhäuser in Vorgartenverschönerungskonkurrenz, kleine Kirche in der dörflich wirkenden Mitte: So präsen-tiert sich das winzige Örtchen. Ein Rauschen liegt in der Luft. Etwas abseits, hinter der Brücke über den beschaulichen Ruhr-Schifffahrtskanal, versteckt sich hinter Tor und Mauer »Delikatfisch-Braun« mit seinen Forellenteichen, ein weitläufiges Anwesen. Dahinter eine Straßenbiegung, dahinter Felder, ein Bauernhof. In die andere Richtung verläuft der Schwiesenkamp merkwürdig linear, wird der Zugang zum vermeint-lichen Wald durch eine Mauer blockiert. Und dann hat einen die schmale Straße auch hier auf eine Brücke geführt, die Häuser rechts enden, der Wald linkerhand erweist sich als Baumstreifen vor mehrgleisiger Bahntrasse, Lärm brandet auf, eine Schlucht öffnet sich: das Autobahnkreuz Duisburg-Kaiserberg. Über das in diesem Moment der ICE Richtung Köln donnert.
Was von der Kulturhauptstadt übrig bleiben wird, ist schwer zu sagen. Wird man in fünf oder zehn Jahren die großen Neu- und Umbauten Folkwang-, Ruhr Museum und Dortmunder U noch »Ruhr.2010« zurechnen? Aber auch vom Erbe der IBA Emscherpark war ja das kostbarste Stück nicht der Erhalt von Zechengebäuden, sondern der Wandel der Wahrnehmung, der so etwas wie Industriekultur überhaupt erst konstituierte. Diese Entdeckung war eine Selbstentdeckung; wenn man so will: die Ich-Werdung des Ruhrgebiets zum Raum mit Besonderheit und Geschichte. Der eigentliche, der mentale Strukturwandel.
Wenn im Zusammenhang mit dem Kulturhauptstadtjahr von deren Pflicht zur Nachhaltigkeit die Rede ist, dann müsste es um die Vertiefung jenes Wandlungsprozesses gehen. Tragen hierzu 300 in die Luft gelassene gelbe Ballons bei, die zu mickrig und zu wenige sind, um auch nur aus der Google Earth-Perspektive – geschweige denn am Boden – demonstrieren zu können, wie sehr das Revier einmal »Revier«, nämlich Kohleland, war und jetzt nicht mehr ist? Wohl kaum. Die Projekte »Emscher-kunst« und »B1|A40« sind da von anderer Qualität. Beide promovieren missachtete Areale zum urbanen Raum: ersteres eine weithin unbekannte Doppelwasserstraße, die Emscher und den Rhein-Herne-Kanal; letzteres eine nur allzu bekannte Autoschneise, die A 40.
Der »Ruhrschnellweg« ist nicht nur die einzige Straße, sondern überhaupt das einzige Realsymbol, das alle Ruhrgebietsstädte verbindet. Die Städte verbindet, die Stadtteile trennt. Der Revier-Boulevard, auf dem niemand flanieren darf. Auf dem man – aus dem Auto vor Schallschutzwände blickend – aus der Stadt verbannt ist. Ihn zu einem zentralen Objekt kulturhauptstädtischer Kunstintervention zu machen, war zwingend. (Weswegen die Stilllegung der A 40 am 18. Juli richtiger und wichtiger ist als Kritiker spotten: Sie bedeutet nämlich die Inbesitznahme der verbotenen Mitte.) »Die Schönheit de Straße« nennt sich das »B1|A40«-Projekt im Untertitel, dies ist weniger ironisch gemeint, als dass es ein Versprechen formuliert. Nämlich dass die Autobahn mitsamt ihren Begleitarealen, offenen Sinn und ein wenig Fußeinsatz vorausgesetzt, eine ganz eigene, starke und nachhaltige ästhetische Erfahrung schenken wird. Skeptisch? – Bedenke: Auch Industriearchitektur wurde bis vor kurzem als Wegwerfbauten ver-achtet, und noch zur Goethe-Zeit galten die Alpen als hässliche Unorte.
Man muss nicht, aber man kann diesen Ort faszinierend finden. Zu dem wir jetzt, den Stufen eines ominösen Fußwegs folgend, hinabsteigen. »Die Hölle von Kaiserberg« nennt Markus Ambach, was uns erwartet – in Düsseldorf lebender Künstler mit vorzugsweisem Einsatz im öffentlichen Raum und Kurator von »B1|A40«. Schweigend stapfe ich meinem Cicerone nach, nebeneinander zu gehen verbietet sich, zu stark wächst von überall her wildes Grün in die Quere, aber miteinander zu reden ist ohnehin unmöglich, eine Armlänge von den LKWs entfernt, die hier auf der langen Tangente Richtung Duis-burg dröhnen. Im Autobahnkreuz Kaiserberg, in den 70er Jahren auf der Stadtgrenze Duisburg-Mülheim errichtet, verbinden sich die Autobahnen A 40 und A 3, werden von S- und Fernbahnstrecken gekreuzt, arbeiten sich innerstädtische Straßen sowie die Ruhr durch das Spaghetti-Gewirr, das der spitze Schnittpunkt der beiden Fernstraßen erforderte.
Mehr als ein Dutzend Straßen- und zehn Eisenbahnbrücken stapelt das Kaiserberg-Kreuz; un-ter sieben von ihnen gehen wir, bis der Weg plötzlich nach links schwenkt. Ein paar Schritte, und der Lärm ebbt ab. Man hört Vögel, vor uns liegt eine Weide, auf der Pferde grasen. Klein im Hintergrund ziehen Laster vorbei, wahr-scheinlich auf der Verbindungsfahrbahn von Essen in Richtung Köln. Eingekeilt von Autobahn, Bahndamm und Ruhr liegt der Dörnerhof, um den herum ein sonderbarer Frieden herrscht, wie der Friede in Ruinen.
Was Markus Ambach fasziniert und was hier im Kreuz sofort sinnfällig wird, ist die Existenz undefinierter oder von Planern und Ingenieuren vergessener und darum nach und nach »frei« gewordener Areale, Situationen, Landschaftsräume. An Bahndämmen, auf Industriebrachen und eben in Autobahnkreuzen entstehen sie am allerliebsten. Es sind Ja-was-eigentlichs, Objektivationen ohne sinngebende Erzählung, für die nicht einmal ein Name existiert. »Eine Pfütze, auf die es regnet, verstehe ich nicht. Ich kann sie sehen«, heißt es bei Alexander Kluge. Der ganze Kaiserberg-Teil des »B1|A40«-Projekts dient dem Sichtbarmachen solcher »Pfützen«, die zu nichts und dennoch da sind. Und wieder verschwinden. Der Weg, den Ambach und ich gerade gehen, ist jetzt ein mit Hinweistafeln ausgeschilderter Kunst-Wanderweg, der all diese kleinen Reiche besucht: das vom Autobahnkreuz in den Dauerschlaf gewiegte Dörfchen Werthacker; den Fußweg zur S-Bahnstation, die nie gebaut wurde; die faszinierenden Graffiti unter den Brücken; die Pumpstation und den Ententeich mitten im Spaghetti-Gewirr.
Drüben, auf der hinter acht Autobahnfahr-bahnen unerreichbar scheinenden anderen Seite ist sie zu sehen, die Station. Auf ihr hat die Frankfurter Künstlergruppe »Finger« einen Mega-Bienenkorb und acht echte Stöcke aufgestellt, zur Produktion von Kaiserberghonig aus Fernstraßenbegleitgrün. Dem Summen der 500.000 Immen sollte eigentlich von Liegestühlen am Wasserreservoir aus zuzusehen sein, doch der Landesbetrieb »Straßen.NRW«, der seine Ideologie von der ablenkungsfreien Autobahn mittlerweile (tatsächlich im Verlauf der Kulturhauptstadt-Vorbereitung) aufgegeben hat, sah hier eine zu große Gefahr. Schade. Denn dieser künst-liche Teich bildet eine irritierende Idylle: Enten schwimmen darin, Rohrkolben stechen daraus hervor, Wilde Kirsche, Erlen, Birken verzaubern ihn zu einem unberührt wirkenden Genrebild. Das, als sei dies eine ver-sehentliche Doppelprojektion, ringsum von Fern- und Lastverkehr auf mehreren Ebenen umrast wird.
Das Projekt »B1|A40« gliedert sich in sieben Ausstellungsräume entlang der A 40. Sie akzentuieren eine jeweils andere, oft unbekannte Erscheinung von Autobahnbegleit-Urbanität. Eine Auswahl:
Kreuz Kaiserberg Duisburg/Mülheim:
Jeanne van Heeswijk begleitet den Teilabriss der Werthacker-Kirche mit einem sozialen Riesentisch in Ringform; zugleich verwandelt sie den (jedem Autofahrer bekannten) Hochbunker direkt im Kreuz zum Leuchtturm mit umlaufendem Licht. Auf einem der zahlreichen Grünschnipsel zwischen den Asphaltbändern erhebt sich eine Skulptur der renommierten amerikanischen Installations-künstlerin Rita McBride, »Delicate Arch«, die an jene Osborne-Werbestiere neben spanischen Autobahnen erinnert. Empfehlenswert ist die Wanderung durch das Kreuz.
Steeler Wasserturm in Essen:
Der documenta-Teilnehmer Christoph Schäfer schmückt den kolossalen Speicher neben der A 40 mit roten Fahnen und illuminiert ihn nachts in derselben Farbe: historische Reminiszenz an Bürgerkriegskämpfe im Gefolge des Kapp-Putsches 1920 an diesem Ort. Die Arbeit ironisiert zugleich Verhübschungsstrategien des City-Marketings im Ruhrgebiet.
Dückerweg in Bochum:
Hier trennt die A 40 Autokult von Schrebergartenidylle. Südlich der Bahn erhebt sich (Wahrzeichen: ausgedienter Bomber!) ein Auto-Tuningzubehör-Geschäft, auf dessen Parkplatz sich immer freitags die Schrauber treffen. Dort, unter dem weithin sichtbaren »Burger King Drive In«-Pylon, hat der international agierende Künstler Joep van Lieshout das »Motel Bochum« aufgebaut, das sich aus Elementen seines ambulanten Bauernhofs und seines autonomen fahrbaren Künstlerateliers zusammensetzt. In niedrigen Wellblechbaracken von Nissenhüttenform kann man übernachten und auf einem Freilufthochklo seinen Geschäften nachgehen, mit Blick auf die A 40 und hinüber auf die andere Seite. Dort befindet sich eine bescheidene Raststätte, dahinter, durch ein Tor in der Lärmschutzwand zu erreichen, eine akkurate Schrebergartenkolonie, deren Mitglieder aus aller Herren Länder stammen. Rastende Fernfahrer und gärtnernde Migranten stoßen hier unmittelbar aufeinander. Das Wiener Duo Zinganel/Hieslmair symbolisiert die seltsame Koexistenz mittels skulpturaler Herkunfts-Diagramme und biografischer Audio-Informationen auf dem Parkplatz sowie mitten im Schrebergarten. Das Kunst-Areal Dückerweg bietet allwöchentlich ein Zusatzprogramm wie Autokino mit Oberhausener Kurzfilmkino.
B1|A40. Die Schönheit der großen Straße, bis 8. Aug. 2010. www2.ruhr2010.de.