// Das Timing war perfekt. Zwei Tage vor den Eröffnungsfeiern von Ruhr2010 feuerte Stefan Soltesz einen Brandbrief ab, in dem er die drohende Verknappung für die Kultur jenseits des Kulturhauptstadt-Schlemmens anprangerte. Soltesz darf sich das Störfeuer leisten, denn von allen gefährdeten Bühnen der Region steht seine am besten da. Das Aalto-Musiktheater kann eine durchgehende Erfolgsgeschichte nachweisen und ist zu 90 Prozent ausgelastet. Als erste Premiere des Festjahres für Essen setzt der streitbare Intendant ein Werk auf den Spielplan, das gewiss nicht als Kassenschlager taugt: Alban Bergs zwölftönige »Lulu«. 1953 hatte die deutsche Erstaufführung am selben Ort stattgefunden, Grund genug, sie nun in der damals gespielten zweiaktigen Fragmentfassung zu zeigen. Soltesz lässt enorm differenziert musizieren, koloriert fein und nimmt das Werk zurück zum Kammerspiel. Ein Hörereignis.
Regisseur Dietrich Hilsdorf, den mit der Aalto-Oper eine mehr als 20-jährige, teils skandalumwitterte Geschichte verbindet, hat mittlerweile seinen Blick auf Distanz gestellt und setzt weniger auf Dekonstruktion als auf radikale Ausnüchterung. Das Rätsel Lulu – Hilsdorf hält sich an Sigmund Freuds Diktum: Wenn wir nicht klar sehen können, wollen wir wenigstens die Unklarheiten scharf sehen. Er habe an Filme von Tarantino oder Haneke denken müssen, gab Hilsdorf vorab höchst aktuell zu Protokoll; er halte nichts von der Dämonisierung dieser mythischen Frauenfigur.
Im kühlen Loftambiente (Bühne: Johannes Leiacker) begegnet uns weder Femme fatale noch Vamp, auch kein Kindweib oder weibliches Opfer. Klar, sachlich, präzise wird die drastische Liebes- und Verfallsgeschichte bis zum Londoner Massaker abgewickelt. Julia Bauers ‚soubrettig’ leicht gesungene Lulu bleibt vorwiegend passiv und in ihrer Wirkungsmacht ebenso unfasslich wie die Besessenheit der sie umgebenden Männer – nebst der Gräfin Geschwitz. Die durch einen transparenten Vorhang sichtbar gemachten Umbauten verstärken noch die Atmosphäre einer auf Abstand haltenden Theater-Selbstbespiegelung. Als überraschende Schlusspointe lässt die Regie die verblichenen Männer allesamt wieder auferstehen, damit sie Lulu mit einem Tranchiermesser die Kehle durchschneiden können. Eine Exekution. // REM