Die Jungfrau fährt in den Himmel auf. Kopfüber hinauf ins Blau. Die weiße Skulptur der Maria ist ein Fundstück von einer Müllhalde. Oscar und sein Bruder Roberto haben die Madonnenstatue zwischen allerlei Schrott hervorgeklaubt, und sie wird nun an einer Winde hochgezogen und verladen. Ein Glücksbringer, vielleicht – sie hätten es nötig. Mit einem Mann als Fahrer des klapprigen Lastwagens, ihrem rüden Padre, Padrone, gehen sie an den Zivilisationsrändern auf Suche nach brauchbarem, sich verkaufen lassendem Material, um die Familie durchzubringen.
Es ist nicht das mythisch melancholische Sizilien des Tomaso di Lampedusa und seines Fürsten von Salina, sondern das arme, karge, sich störrisch einer besseren Zukunft widersetzende Italien von Pasolini und Milo Rau, als die in der Felsenstadt Matera das Matthäus-Evangelium und Jahrzehnte später »Das Neue Testament« verfilmten. Und noch ein großer Name: der von Carlo Levi und seinem Roman »Christus kam nur bis Eboli«. Darin schreibt er über die Elenden, Rechtlosen, Ausgemusterten: »Wir gelten nicht als Menschen, sondern als Tiere«. Viel hat sich da nicht geändert seit den Tagen Mussolinis für die, die heute Parias der Gesellschaft sind.
Die Frohe Botschaft wird in Michele Pennettas Film »Il mio corpo« – dem Finale einer kleinen Trilogie – auch nicht gehört oder befolgt. Pennatta kommentiert nicht; er vermittelt den Eindruck, sich dem Spiel des Zufalls zu überlassen, um Zustände, Momente und Situationen zu begleiten und zu beobachten und ins Schweigen seiner beiden jungen Helden hinein zu filmen.
Stummes Treffen
Diese Menschen – Kinder oder Flüchtlinge, von jenseits des Mittelmeers herangespült, wo sie ein Leben hatten statt ein Asyl wie jetzt oder nicht einmal das – haben Hilfsdienste bei der Ernte und beim Schafe-Hüten zu leisten, schuften für wenig mehr als eine Mahlzeit und ein Dach überm Kopf. Für Schule, Ausbildung, Fortkommen ist kein Raum.
Sein Kamerad bekommt den Abschiebe-Bescheid, dem er zu folgen hat, wenn er nicht innerhalb von 30 Tagen in Rom Widerspruch einlegt, während Stanley aus Nigeria immerhin Aufenthaltspapiere für sechs Monate besitzt. Aber er bleibt, unter dem Schutz der Kirche, auf Sizilien hängen. Ihm fehlt der Mut, sich an der Realität draußen zu messen, wo Integration ein oft gebrochenes Versprechen bleibt, womöglich in die Schweiz zu entkommen. In ihrer freien Zeit spielen sie Basketball, gehen schwimmen oder in die Disco. Warten. Hoffen – weniger.
Oscar, heimatlich obdachloser Sohn einer zerrissenen, lieblosen Familie, und Stanley, der unter Obhut und Obacht des katholischen Priesters steht: zwei Schicksale, die am selben Ort leben, deren Perspektiven ähnlich eng und die beide einsam sind in ihrer oder ohne ihre Umgebung und die sich an einer Stelle der filmischen Geschichte treffen und stumm gegenüberstehen.
Hier geht »Il mio corpo« über den bloßen Anschein des Dokumentarischen hinaus und lässt die behutsam gestaltende und inszenierende Hand der Regie erkennen, als habe Pennetta bei den Meistern des Neorealismus das Handwerk studiert, das seine Poesie oft mehr verborgen als offengelegt hat.
Es leuchtet ein Licht im Dunkel der verlassenen Mine, wo Stanley sich ein Lager bereitet und wohin es Oscar, weshalb auch immer, gezogen hat. Als hätten sie sich gesucht. Auch ein unbekannter Freund kann ein Freund sein. Der Mond steht am Himmel. Die Nacht bricht herein über Sizilien. Pergolesis Stabat Mater erklingt – ein Trauergesang zwar, aber es scheint, als würde er sich schützend über Oscar und Stanley breiten wollen.
»Il mio corpo«, Regie: Michele Pennetta, Italien / Schweiz, 2020, 80 Min., Start: 18. August