TEXT UND INTERVIEW: ULRICH DEUTER
Im Entree des Campusmuseums der Ruhr-Universität Bochum steht eine kolossale Laokoon-Gruppe. Wenige Schritte entfernt lächelt Komi Edinam Akpemado von einem Videoschirm auf das antike Gedränge herab, Herr Akpemado sitzt aufrecht auf einem Stuhl, vor ihm ragt eine einfache Couch, hinter ihm stehen ein Schreibtisch und eine angeschaltete Stehlampe mit kugelrundem Kopf. Herr Akpemado schweigt und wirkt etwas verlegen.
In der Wohnung der Kuoppamäkis taucht die Stehlampe wieder auf. Die vierköpfige Familie sitzt auf ihrem Sofa, von der Decke hängt schwer ein Lüster, die Wand ist gespickt mit wenig kunstsinnigen Bildern. Schwarzweiß blicken die Kuoppamäkis aus ihrem Foto heraus und auf die Büste »Diego« von Alberto Giacometti, die weiter innen in einer Nische des Museums ihren Standort hat. Neben den Finnen präsentiert sich eine Amerikanerin in ihrem Interieur, daneben sowie gegenüber finden sich weitere Wohnende, einzeln, zu Paaren, zu Gruppen – insgesamt 100. In der Mitte des Bildes immer: die hell brennende Lampe mit dem Kugelkopf. »New Pott« heißt die Ausstellung, die sich derzeit in dem angesehenen kleinen Uni-Museum filigran ausbreitet, Untertitel »100 Lichter/100 Gesichter«. Der Düsseldorfer Künstler Mischa Kuball hat sie genau für diese Räumlichkeit konzipiert.
Gemacht hat er sie nicht. Oder nur zu geringen Teilen. Gemacht haben sie der Fotograf und Filmer Egbert Trogemann, viele Assistenten sowie weit über 100 Menschen im Ruhrgebiet: Menschen mit dem berühmten Migrationshintergrund. Sie haben sich besuchen lassen, in ihren Wohnungen überall im Revier. Sich fotografieren lassen (in Schwarzweiß). Sich filmen lassen (in Farbe). Und sie haben dabei erzählt, woher sie kommen, warum und wie sie kamen, wie sie hier leben. Und was ihnen sonst alles einfiel. Manchmal drei oder vier Stunden lang. Je ein Mensch oder eine Familie aus einem Land der Welt.
Sie waren offen. Denn Mischa Kuball hatte ihnen etwas mitgebracht: die Lampe. Etwas höher als übliche Stehlampen, mit einem deutlich kühleren Licht. Mit der eingravierten Inschrift »Lux venit in mundum et dilexerunt homines magis tenebras quam lucem« aus dem Johannesevangelium (»Das Licht ist in die Welt gekommen, und die Menschen liebten die Finsternis mehr denn das Licht«). Die harmlosere Form eines Danaergeschenks, denn diese Lampe brachte das Öffentliche in die Wohnstube und private Schicksale an dessen Licht.
»New Pott« entwickelt ein Projekt weiter, das Kuball 1998 in São Paulo verwirklicht hatte, und ist zu einem Unternehmen geworden, das nicht nur »mein bisher größtes« ist, wie der Künstler mit leicht erschöpftem Lächeln bekennt. Sondern auch eines, das sein Hauptmedium Licht am stärksten dezentrierte und die Dimension des Sozialen und Partizipativen, die schon immer beim »Lichtkünstler« Kuball eine Rolle spielte, in den absoluten Vordergrund schob. Knapp ein Jahr nur für die Gespräche hat »New Pott« gekostet. Über 300 Stunden Videomaterial liegen vor, sind zu großen Teilen in der Ausstellung anzusehen und werden derzeit für eine Buchpublikation verschriftlicht. Sowie 100 Fotografien.
Doppelfotografien. Ein oberes Foto zeigt die Menschen in ihrer jeweiligen Wohnumgebung. Eins das Interieur ohne die Menschen, aus demselben Winkel, in derselben Beleuchtung.
K.WEST: Warum diese Doppelung?
KUBALL: Ich bleibe länger an einem Bild, wenn ich es noch einmal gewandelt vor mir habe. Sobald zwei Situationen da sind, beginnt das Abgleichen. Im unteren Bild sieht man: Da war jemand. Man spürt die auratische Aufladung. Das ist wie ein Vexier.
K.WEST: Von Fremden befragt zu werden, ist schon gewöhnungsbedürftig. Aber von Fremden eine Lampe geschenkt zu bekommen, muss doch die Menschen irritiert haben!
KUBALL: Gar nicht. Die haben sofort gemerkt, das ist anders. Mit dem Licht kam ja auch eine Botschaft, mit dem profanen Anschalten ging auch eine Lichtmetaphorik an. Dann musste ein Ort für die Lampe gefunden werden. Interessanterweise war das in vielen Fällen einer, an dem schon ein Licht stand. So dass die Lampe in Konkurrenz oder zumindest in Korrespondenz trat. Jetzt ist sie noch ein Fremdkörper. Aber sie wird ein Alltagsstück in den Wohnungen werden. Und in fünf und in zehn Jahren will ich diese Menschen erneut kontaktieren und fragen: Wo bist du, wie geht es dir, was machst du?
»New Pott« ist ein Kulturhauptstadt-Projekt; als klar war, dass es für das Campus-Museum konzipiert werden sollte (in dessen Besitz es übergeht), machte das International Student Office der Uni den ersten Recherche-Schritt und ermittelte im Dunstkreis der Hochschule Menschen aus 107 Nationen; erweitert wurde die Liste durch Nachforschungen von Kuballs Mitarbeiterinnen bei Ausländerbehörden und in sozialen Netzwerken, bis die symbolisch große Zahl 100, auf die es Kuball ankam, erreicht war. Nun sind die 100 Länder auf einer Umrisskarte des Ruhrgebiets auf einem Touchscreen eingetragen: eine dislozierte Topografie der Welt und neue Karte des Reviers, in der Israel neben Japan liegt, da wo sonst Duisburg und Mülheim wären.
Drückt man beispielsweise auf Angola, ploppt sich ein Film nach vorn, auf dem Soba Do Christo Toko sagt: »Ich bin in Deutschland seit 15 Jahren, und ich bin täglich mit Kultur beschäftigt. Und ich habe gleichzeitig einen anderen Beruf gelernt: Frisör. Hier in Bochum habe ich die Galerie ›Multi-Kulti‹ gehabt, drei Jahre.«
K.WEST: Sie haben so viele außergewöhnliche Lebensläufe gehört. Welche sind Ihnen besonders nahe gegangen?
KUBALL: Die von Pawel Lahn zum Beispiel. Er ist ein Opfer von Tschernobyl, aber war auch ein Straßenkind. Er hatte ein Herzproblem, wurde in seinem Land falsch operiert, kam nach Essen in die Uniklinik, und da hat ihn dann eine deutsche Familie adoptiert. Jetzt macht er eine Ausbildung zum Orthopädietechniker. Das erzählt er alles im Gespräch, und zwar so, wie man sonst vom Einkaufen erzählt, so lakonisch. Dadurch, dass er in diesem Projekt sozusagen für sein Land, Weißrussland, steht, hat er einen extremes Selbstbewusstsein ausgestrahlt. Da war nichts Leidendes, obwohl seine Geschichte voller Leiden ist. Das war für einen 26-Jährigen schon beachtlich.
Fast alle der Besuchten und Befragten können gut bis hervorragend Deutsch, fast alle sind irgendwie angekommen. Man sollte für die Ausstellung Zeit mitbringen, um den Geschichten zu lauschen. Die Berichte von Flucht und Auswanderung beweisen: Migration bedeutet immer Leiden. Während die Fotos Sicherheit vermitteln: Alle blicken zurück auf ihre Unbill von einem Hafen aus: Alle besitzen eine Wohnung. Viele haben neben sich einen Lebenspartner sitzen, aus ihrem Ursprungsland oder von hier. Ein hundertfacher Beweis für gelungene Integration – ein Anti-Sarrazin sozusagen, was Mischa Kuball aber nicht gern hören mag, für ihn ist sein Opus maximum kein politisches Projekt. Eine soziologische Feldforschung hingegen schon, weswegen sich an der ambitionierten Buch-Ausgabe von »New Pott«, die leider erst im Frühjahr erscheint, auch der renommierte Sozialpsychologe Harald Welzer beteiligt. Kuballs Setting schafft Vergleichbarkeit, die große Zahl der Mitwirkenden eine gewisse Repräsentanz, das Schwarzweiß reduziert die Besonderheiten. Das strenge Muster der Fotografien Egbert Trogemanns (der lieber farbfotografiert hätte …) lässt an August Sanders »Menschen des 20. Jahrhunderts« denken – was Kuball, einem Verehrer Sanders, nur recht ist. »Ich fand es wunderbar, so richtig in einer großen Erzählung zu verschwinden«, sagt der »Initiator«. Und verschwindet Richtung Japan. Wo das nächste Projekt wartet.
Bis 30. April 2011. Campusmuseum der Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstraße 150. Tel.: 0234/32-26782. www.kusa-rub-moderne.de.
Tagung »Relational Art« 21. u. 22. Jan. 2011 in der RUB. Kuballs Ausstellung »public alphabet« bis 24. Jan. 2011 im Museum DKM, Duisburg. www.stiftung-dkm.de