Günther Uecker, geboren 1930 im mecklenburgischen Wendorf, gehörte mit Heinz Mack und Otto Piene der ZERO-Gruppe an. Drei Mal nahm Uecker an der Kasseler documenta teil, 1971 vertrat er Deutschland auf der Biennale von Venedig; von 1976 bis 1994 lehrte er als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie. Der Reisende, für den Düsseldorf ein verkehrsgünstiger Vorort der Welt ist, hält nun den Atem an und hält Rückschau in Berlin. Vom 11. März. bis zum 6. Juni ist sein Werk im Martin-Gropius-Bau, in der Neuen Nationalgalerie sowie im Berliner Kunstverein zu sehen. Mit Uecker, der im März seinen 75. Geburtstag feiert, unterhielt sich Heinz-Norbert Jocks; 1997 hatte er in seinem Buch »Archäologie des Reisens« Uecker umfassend porträtiert.
K.WEST: Hat sich Ihr Blick auf Leben und Tun mit dem Alter verändert?
UECKER: Ja, gewiss. Da ich immer in dem Gefühl lebe, das Eigentliche sei noch nicht getan, löst die Zäsur, also die erreichte Lebenszeit, die in einem ungleichen Verhältnis zum Jetzt und zur Zukunft steht, bei mir eine gewisse Bedenklichkeit aus. Dieses Datum erinnert an die Mutter, und man fragt sich, wie alt sie bei der eigenen Geburt gewesen ist. Gut, es gibt auch die Vaterschaft. Jedoch dachte ich mehr an eine Passage aus dem Koran, wonach bei Maria allein durchs Wort die so ungewöhnliche Zeugung Jesu hervorgerufen wurde. Die Herkunft, besser die Beziehung zur Mütterlichkeit zeigt sich bei mir in der Kreativität. Diese feminine Komponente meines Wesens steht in enger Wechselbeziehung zum Maskulinen. Daran denke ich vor allem jetzt, da ich meine Arbeit überschauen kann. Wenn in Berlin 50 Jahre meines Werks vorgestellt werden, ist das vielleicht sogar künstlervernichtend. Man beginnt eine eigene Rezeption und betrachtet die Dinge aus einer gewissen Distanz, tut folglich genau das, was ich bisher immer vermieden habe. Aus dem Bann des Gemachten befreite ich mich bisher immer durch Vergessen und Auslöschen. Für mich ist, was noch zu tun bleibt, das Eigentliche. Da es noch nicht getan ist, fühle ich mich wie am Anfang. Diese meinem Inneren entsprechende Haltung hat mich in meinem Leben geleitet. Ich will nicht der Rolle des arrivierten Künstlers verfallen, der sein Werk überschaubar mit sich trägt, sondern alle Türen offen lassen, um schöpferisch tätig zu bleiben.
K.WEST: Gelingt es Ihnen, davon abzusehen, dass die Vergangenheit sich vermehrt, während die Zukunft abnimmt?
UECKER: Ich habe dazu 1980 ein Manifest geschrieben, worin es heißt: Die sich vermehrende Mehrheit der Anwesenden sind die Toten, und die Lebenden befinden sich gegenüber den Ahnen immer in der Minderheit. Woher man kommt, ist ja auch Bürde. Vom Gewicht eines Werks, wie es im Gropius-Bau deutlich werden wird, kann man sich nicht befreien. Man muss es akzeptieren und in dieser Befangenheit eine Erinnerbarkeit erzeugen, wogegen man sich gleichzeitig wehrt. Die Widersprüche im Menschen sind Ausdruck seiner Poesie. Die Berliner Ausstellung, die mich stark berührt, steht im Gegensatz zur Moskauer 1988. Damals war es eine Behauptung gegenüber der Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Euphorie des Dialogs mit der vor- wie nachrevolutionären Kultur in der Sowjetunion. Da bin ich anderen Impulsen begegnet, die mich beflügelten, während ich nun meiner Lebenszeit gegenübertrete.
K.WEST: In vielen unserer Gespräche betonten Sie, es gehe Ihnen um das Jetzt. Wie erleben Sie das angesichts der Retrospektive?
UECKER: Es gibt da eine Furcht vor dem Überschaubaren in seiner Quantität. Einerseits wehre ich mich dagegen, den Sack des Getanen mit mir herumzuschleppen. Anderseits bin ich gezwungen, das Erinnerbare für eine allem gerecht werdende Ausstellungsform zu systematisieren. So haben wir uns gemeinsam darauf verständigt, das Werk in 20 Kapiteln vorzustellen. Ausgewählte Werkgruppen erhalten jeweils einen Raum. Im Juni kommt noch eine Ausstellung mit den Krachmaschinen und den komplexen Gerätschaften hinzu, die in den 60er Jahren Ausdruck eines existentiellen Schreis oder Randalierens waren. Damals rebellierte man gegen die Kunstgeschichte, vor allem gegen die Verschüttung geistigen Erbes aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Man versuchte sich Geschichte aus den Quellen des Aufbruchs vom 19. zum 20. Jahrhunderts zu geben, denn man konnte sich ja nicht auf die menschenverachtende Epoche beziehen, an der alle in Deutschland damals Lebenden beteiligt und von der alle Europäer betroffen waren. Es hatte etwas von Aufbegehren, aber auch von einer Suche nach Authentizität im Ausdruck. Man stellte sich der dunklen Vergangenheit, um sie ans Licht zu holen. Man kann also sagen: Zunehmendes Licht ist abnehmendes Dunkel. Die Erhellung von Lebensumständen in der besonderen Anstrengung, eine geistige Grundhaltung zu provozieren, die die Verletzung des Menschen durch den Menschen vermindert, ist für mich bis heute, sogar stärker als je zuvor, verpflichtend und prägt meine Arbeit.
K.WEST: Erleben Sie Gegenwart jetzt anders als früher?
UECKER: Gegenwart ist das, was man selber erlebt. Und wenn ich mir, was ich nicht tue, mit dem Hammer auf den Finger haue, so ist der Schmerz Gegenwart. Oft sind die eigenen Schmerzen so groß, dass man weder die Umgebung wahrnimmt noch die Ereignisse, die einen begleiten. Gegenwart ist immer schon bei sich selbst, während Zeitgeist eine Atmosphäre ist, in der man sich geistesgegenwärtig verhält. Mehr aus sich selbst heraus als von außen bestimmt. Je mehr man sich in eine existentielle Realität begibt, desto mehr findet, was man tut, wahrhaftigen Ausdruck. Zugleich ist es mehr Sack-und-Pack als Freiheit vom Tun im Jetzt, um die es mir geht. Die Gegenwart wird durch die museale Bestandsaufnahme zu etwas anderem. Aber sie ist mein Jetzt, das ich, obgleich beschwerlich, annehme.
K.WEST: Wo sind die Wendepunkte in Ihrem Werk?
UECKER: Die gab es nicht. Es war immer das Kontinuum einer großen Anstrengung. Wachheit und auch das Erzeugen einer seherischen Erhellung im Gestrüpp chaotischer Wahrnehmung. Bei mir ist es immer zugleich Innen und Außen. Da wird keine Seite gewendet wie bei einem Buch, auch wenn wir die Bestandsaufnahme in Kapiteln eingeteilt haben, wodurch auch für mich ein mir bisher undeutlich gebliebener Prozess sichtbar wird.
K.WEST: Hat sich die mit Kunst verbundene Erwartung mit der Zeit verändert?
UECKER: Meine Erwartung war, alles mehr aus einem Liebesbegehren heraus zu tun. Es ist so, als ob man permanent Liebesbriefe schreibt – aber ohne Adressaten. Es sind also Briefe an einen Unbekannten, zerrissen und über einen Berg geweht. Sie bleiben bei einem selbst. Außer dem Wunsch, meine Sehnsucht sichtbar zu machen, ist da noch der Wille, auf sich aufmerksam zu machen. Das war der Grund meines stark manischen Handelns. Was ich aussage, ist ein Stammeln meiner Leidenschaft aus einer Liebessehnsucht heraus.
K.WEST: Und wie ist es mit der Erwartung an die Kunst?
UECKER: Erwartet habe ich ja nichts. Ich warte auch nicht, sondern handle, und zwar obsessiv. Das dabei Hervorgebrachte ist für mich, da ich es mir zuvor auch nicht vorstelle, unerwartet, und es überrascht mich auch, wozu ich fähig bin. Es so zu akzeptieren, wie es kommt, ohne es zu korrigieren, ist wichtig. Gut, in der Form des Erreichten wie des Geschätzten, das einen berührt, versucht man sich schon zu vergleichen. Aber ohne Gleiches zu tun. Es geht darum, sich auf originäre Weise in der Welt auffällig zu gebärden. Diese Auffälligkeit ist die bildnerische Präsenz. Dass die Begegnung mit einem Werk für den Betrachter und auch für den Täter aufschlussreich sein kann, liegt wohl in der Sache selbst begründet. Denn das Werk vermittelt tiefen Einblick in die Verfassung eines Künstlers, der unter einem so risikoreichen wie manischen Handlungszwang steht und so etwas hervorbringt, was ihm selbst als etwas Unheimliches erscheint. Angesichts dessen frage ich mich, woher es kommt. Es ist ja nichts zuvor Ausgedachtes. Bei mir jedenfalls nicht. Es geht durch mich hindurch. Natürlich sind die Resultate qualitativ steigerbar, denn mit den Jahren entwickelt sich so etwas wie Meisterschaft. Das ist aber keineswegs die Essenz. Was aus dem Dunklen kommt, wird lichter und näher an die Augen getrieben. Die Quellen der Kunst liegen außerhalb von ihr.
K.WEST: Was empfinden Sie in der Konfrontation mit Werken, denen Sie lange nicht mehr begegnet sind?
UECKER: Gerade habe ich eine Arbeit von 1961 aus der Sammlung Viktor Langen in dem neuen Museum auf der Raketenstation der Insel Hombroich gesehen. Da war ich ganz berührt, weil es mich sozusagen unvorbereitet anfiel. Gelegentlich gibt es Augenblicke, da ich dasselbe Empfinden habe wie jemand, der meine Werke von außen ansieht. Es besitzt eine in sich gefasste Intensität bildnerischer Präsenz.
K.WEST: Wie definieren Sie das Verhältnis von Leben und Kunst?
UECKER: »Leben und Kunst« habe ich nie erfahren. Es gibt Kunst, und es gibt Leben und Tod. In diesem Handlungsfreiraum, den wir uns schaffen, können wir uns sozusagen erbrechen. Man kann die Welt verschmutzen. Man kann in ihr fast schrankenlos einbrechen und aus ihr wieder ausbrechen. Als Teil der Schöpfung und aufgrund der eigenen Individualität hat man alle Möglichkeiten – zerstörerische wie gestalterische. Das sind erschütternde Vorgänge. Zu dem, was ich sichtbar machen kann, gehören die Neigung zur Zärtlichkeit, die Möglichkeit, Mitgefühl für andere zu erzeugen, sowie die Fähigkeit zur Befriedung des aggressiven, in einem selbst angelegten und auf die Welt übertragbaren Potenzials. Wahrscheinlich ist die Selbsterkennbarkeit dessen, was ich tue, also der bildnerische Dialog mit dem, was in mir unaussprechbar ist, das, was mich am meisten fasziniert. Da ist etwas in mir, das, Bild geworden, in der räumlichen Welt auch mir zu einem Gegenüber wird. Es kann etwas Gutes und etwas Schlechtes sein. Etwas Zerstörerisches oder etwas Schöpferisches. Die Kunst ist Zeugnis der Spanne zwischen Leben und Tod. Sie überwindet Grenzverhältnisse.
K.WEST: Sie sagten einmal, mit Vierzig hätten Sie begonnen, sich von der Erde zu verabschieden.
UECKER: Nein, nicht von der Erde. Man stirbt sozusagen dahin und wird wieder zu Erde, und manche wollen auch darin begraben werden. Was ich damals meinte, war, dass ich mich auf den Spuren der noch sichtbaren Erinnerung befinde und Abschied vom Sichtbaren der Welt nehme. Da nicht genug Zeit zur Begegnung angesichts des Todes bleibt, habe ich mich gleich auf den Weg des Abschieds von der Welt gemacht, damit ich erkenne, wie sie ist. Das ist eine intensive Form gelebter Wahrnehmung. Der Welt, die mir zufällt und durch die ich mich bewege, begegne ich im Abschied dadurch, dass der Abschied unwiederholbar ist, mit viel größerer Aufmerksamkeit. Dieser Erlebnisvorgang erscheint mir auch wahrhaftiger. Der Augenblick der Begegnung ist ja eigentlich immer schon Abschied von der Welt, da sie bereits Sekunden später eine andere ist und sich von Tag zu Tag verändert.
K.WEST: Nun hat dieses Unterwegssein wohl seine Ursache auch in der Vertreibung von der Insel Wustrow, auf der Sie aufwuchsen. In welcher Beziehung steht Ihre Künstlerexistenz zum Unterwegssein?
UECKER: Durch das Verlassen meiner Herkunftsinsel erfuhr ich, dass ich befähigt war, mir in der Welt Behausung zu verschaffen. Man wandelt doch in den Sehnsüchten, etwas zu finden. Und der Aufbruch ist wieder neu. Ein neuer Tag. Ein neues Land. Ein neues Lied auf der Zunge. Ein noch nie gesehenes menschliches Antlitz. Eine neue Begegnung. Aber immer wieder wird es Abend. So erhält das Leben seine Strukturierung wie in der Musik mit Intervallen und Fugen. Sichtbares und Verträumtes, Erhellung und Verschattung, Schlaf und Erwachen. Diese rhythmisierten wie zeitlichen Prozesse sind mit einer großen Lebens-Symphonie vergleichbar. Ein ganz großes Oratorium.
K.WEST: Kam mit den Reisen die Erfahrung der Befremdung?
UECKER: Ich bin mir fremder als alles Befremdende, dem ich in der Welt begegnet bin. Alles, was ich als fremd ansehe, ist mir doch viel vertrauter als das, was in mir selbst als Befremdung durch mein intensives In-mich-Gehen erfahrbar ist. Wenn ich in eine Räumlichkeit dringe, wo der Klang verstummt und auch da, wo das Licht mehr ein Gleißen über eine Weite denn ein Zeichen ist, bin ich in Form der Niederschrift durch Malen befähigt, in eine andere Welt einzudringen, obwohl es dieselbe ist. Scheinbar vertieft man sich in eine andere Räumlichkeit. In Aquarellen, die ich in vielen Ländern zu Tausenden mache, findet diese Erfahrung ihren Niederschlag. Es ist sozusagen der Tau der tieferen Einsicht in die Welt sowie der Einlassung in andere Kulturen. Die seelische Anrührung durch das dort Erfahrene wird zur Farbe und ist, aufgetragen auf Papier, wie ein in der Nacht sich bildender Tau ans Morgenlicht gebracht, in Orange mit blauen Schatten.
K.WEST: Welches waren die stärksten Erlebnisse in Ihrem Leben?
UECKER: Das stärkste war wohl, als die vielen Leichen der untergegangenen Cap Arcona an unsere Insel getrieben wurden. Da habe ich im Alter von 15 Jahren mehr als 75 Leichen, die bereits sechs Wochen auf Land lagen, in die Erde geschaufelt. Einschneidend sind solche Eindrücke. Liebesverlust ist wohl aber im buchstäblichen Sinne das Einschneidendste im Leben, was auch dazu führen kann, dass man sich die Pulsadern aufschlitzt.
K.WEST: Sie wirken wie jemand, der alt werden möchte.
UECKER: Ja, ich wollte schon als Kind sehr alt werden. Alt, das ist für mich vergleichbar mit einer dunklen Stimme oder, noch besser, mit einem dunklen Ton, der lange in der Welt bleibt. Und der Tod ist nur ein Übergang. Danach kommt etwas ganz anderes, das wir uns nicht vorstellen können. Darauf kann man doch neugierig sein.