Sommerabend. Salzburg. Ein Gewitter verflüchtigt sich, scherenschnittscharf heben sich die Konturen der Domsilhouette vom Wolkenhimmel ab. Über dem Gaisberg wölbt sich ein Regenbogen. In der Hofstallgasse aber paradieren sie den offenen Festspielhaustüren entgegen, im Edeltrachtigen, die Fendi-Bags auf der Schulter, getigerte Stilettos oder Plexiglaspantoffeln am Fuß. Die Micks und Mucks sind da, die Putzis und Fipsis. Hier ein Industrieller, dort der Dichter Durs Grünbein samt hochschwan- gerer Gefährtin. Großer Bahnhof wie selbst dort sonst nur selten: La Jessye gibt sich mit einem Liederabend die Ehre. Die Norman schaut und singt vorbei – im 24. Jahr immerhin. Dagegen verblasst – noch – der hysterische Trubel um Anna Netrebko.
Beklommene Gefühle beim Aufstieg in den Saal. So toll ist sie ja nicht mehr, ihre letzte gute Aufnahme liegt Jahre zurück, ihre jüngste Jazzplatte mit schwerfällig servierter Musik von Michel Legrand ist selbst als Rückzugsgefecht ein Witz. Und laufen kann sie auch kaum noch, die Hüfte macht ihr zu schaffen. Der erste Anblick aber ist ein restlos positiver: Jessye Norman sieht hinreißend aus. Ein fuchsiarotes Kleid im griechischen Stil mit eingearbeitetem Überwurf; hauteng geschnitten – für ihre Verhältnisse. Goldene Pumps, goldene Ohrringe, ein goldenes Wickeltuch im Haar, das weit oben schwarz geflochten herausquillt. Eine Karthager-Königin. Wenn doch sie die Cassandra gesungen hätte! Das durften zuletzt 1983 die New Yorker erleben.
Leichtfüßig fast kam sie herein, stolz, freudvoll, konzentriert. Und singt mit durchdringend klarer, gut projizierter Stimme sechs Beethoven-Lieder. Nicht zu hoch, nicht zu schwer, sehr schön. Das Publikum: so irritiert wie ein wenig reserviert. Eine Diva, die fordert; eine Göttin, die nicht mit der Wurst nach der Speckseite wirft. Stattdessen mit einem Programm des puren Eklektizismus ihren reduzierten vokalen Mitteln gerecht wird. Und das gekonnt.
Es folgt »Sweet Talk«, vier Lieder nach Gedichten von Toni Morrison, von Richard Danielpour für sie geschrieben. Eine Cellistin und ein Kontrabassist füllen Melodielinien, verlieren sich neben den Stakkati des Pianisten Mark Markham im zartfarbenen Ungefähr. Auf dem die Norman gar köstlich dahinsegelt, spricht, flüstert, meditiert. Kostbares Singfutter für einen Star. Der anwesende Komponist klatscht heftig im Stehen. Nach der Pause eine weitere Spezialität à la Jessye: Ravels drei »Shéhérazade«-Lieder, raumweite Exotismen, verheißungsvoll, fast nur gehaucht. Ein weiterer Triumph guten Geschmacks und könnerischer Textverkostung. Das Auditorium weiß es nur indifferent zu schätzen.
Dann aber kommt es. Die Göttin steigt vom Kunstthron, gibt sich endlich volksnah mit Schönbergs »Brettl-Liedern«, die sie seit langem schon hinreißend verfehlt. Kleine Kunst, groß aufgeplustert, von plumpen Vokalgesten und Augenrollen begleitet. Die Norman als Marketenderin, die ihre Ware unter Wert feilbietet. Das Publikum aber liebt es, klatscht sich wund. Rote Rosen als Dank. Die Strauss-Zugaben sind schnell gewährte Routine. Die unerwarteten Schönheiten des Vorangegangen können sie freilich nicht verblassen machen.
Immerhin, dieser Liedabend hat stattgefunden, ihr vorerst vorletzter in Salzburg. Inzwischen halten sich die wirklichen Konzerte mit den Absagen die Waage. Im vorigen Sommer in Hamburg und Kiel, da konnte das Publikum seine Göttin gar im Sitzen bewundern, einen ganzen Abend wollte die Norman nicht mehr durchstehen. Und der mit viel PR-Brimborium vorab inszenierte Arte-Porträtfilm ihres Freundes André Heller im letzten Dezember, wo sie viel Nichtssagendes in der afrikanischen Gartenkulisse von Yves Saint-Laurents Haus in Marrakesch von sich und dabei doch nichts preisgibt, um dann zu zwanzig Jahre alten Tonaufnahmen zwischen geschmäcklerischen Projektionen die Lippen zu bewegen, stimmte eher traurig. So wie ihre missglückten Flirts mit dem Swing, der so gar nicht ihr Ding ist. Gut also, das der geplante Auftritt als »Dich teure Halle grüß ich wieder « singender Fußball bei der Fifa-Gala im Berliner Olympiastadion nun gnädig ausfällt. Nun aber will es Jessye Norman, die ultimative Diva, noch einmal wirklich wissen.
Tritt neuerlich an zum huldvoll zelebrierten Vokal-Hochamt. Da mag die sahnecremesopranige René Fleming noch so sehr mit gesponserten Couturier-Roben auftrumpfen und sich Cecilia Bartoli mezzogeschwind stundenlang durch drei Oktaven gurgeln, den ersten Platz im Primadonnen-Olymp will La Norman weiterhin verteidigen. »Beetween Love and Lost« überschreibt sie prophetisch ihre – für ihre Verhältnisse – ausgedehnte Deutschlandtournee, es gibt mit Mahler und Strauss, Schönberg und Berlioz, Ravel und Harold Arlens »Somewhere over the Rainbow« die volle Liederabend-Dröhnung. Diesmal kein Verstecken hinter unbekannten Boutiquengesängen, apart instrumentiert, um von der stimmlichen Verfassung abzulenken. Ein letztes kreatives Aufbäumen oder Ausverkauf der schwarzen Callas?
Fakt ist: Jessye Norman, geboren in Atlanta, wird am 15. September 61 Jahre alt. Wenn sich eine Sopranistin gut gehalten hat, klug mit ihren Ressourcen umgegangen ist, dann kann hier noch im Herbst einer Karriere eine schöne Ernte eingefahren werden. Doch Jessye Norman, die manche für einen verkappten Mezzo mit hochgetriebener Höhe halten, hat Raubbau betrieben und ihre Manierismen gepflegt. So ist sie künstlerisch immer unduldsamer geworden und schließlich vereinsamt. Keiner ist ihr mehr gut genug. Nur am Pariser Théâtre du Châtelet zahlt man noch Wahnsinnsgagen, wenn sie, optisch preziös bis lächerlich arrangiert unter Anleitung von Robert Wilson oder André Heller, vor allem aber von sich selbst mit stummfilmhafter Gestik Schuberts »Winterreise«, Schönbergs »Erwartung« oder Poulencs »La voix humaine«, den ultimativen Telefonmonolog einer verlassenen Geliebten, als szenisches Konzert im Divenalleingang fährt. Und Fakt ist auch: Jessye Norman, Tochter eines Versicherungsagenten und stolzes Mitglied einer musikbegeisterten Baptistengemeinde, war eine der besten, bewunderungswürdigsten Sängerinnen des 20. Jahrhunderts. Mit wundervollem Legato, mit glutvoller Allüre, mit makelloser Sprachbeherrschung auch in deutsch und französisch. Das hatte sie von dem grandiosen Liedsänger Pierre Bernac gelernt. Seit die Norman 1968 glanzvoll den ARD-Musikbewerb in München gewann und anschließend an die Deutsche Oper Berlin engagiert wurde, begann ihre bis heute andauernde Liebesbeziehung mit Deutschland. Hier wurde sie schon als Wagners Elisabeth und »Figaro«-Gräfin gefeiert, bevor sie in Mailand und Florenz als Meyerbeers »Afrikanerin «, als Aida, Ariadne und Dido bejubelt und die Königin der Festspiele von Aix-en-Provence, Salzburg. Ludwigsburg und Schleswig- Holstein wurde. »Was ich anzubieten habe, ist eine singende, musizierende Stimme«, hat sie einmal gesagt, traumschön und samtweich bei Schubert, Schumann, Strauss und Brahms, zart und frivol flirrend bei Duparc, Chausson und Fauré, ebenholzdunkel und satt in den immer als Kunstübung absolvierten Spirituals, mit denen sie ritualhaft ihre Liederabende beschließt. Eine Stimme im Niemandsland zwischen lyrisch und dramatisch, schwer, aber auch beweglich. Diese Jessye Norman, die sich schon ab 1975 auf der Bühne rar machte, obwohl sie immer eine unglaublich schöne, eigene und eindrucksvolle Erscheinung war, eine geborene Königin, vor der alle anderen wie von selbst in der zweiten Reihe verschwanden, war eine Sängerin für Kenner. Mit Operneinspielungen von Glucks »Alceste «, Haydns »Armida«, Webers »Euryanthe«, Faurés »Penélope« oder Verdis »Corsaro« erreicht man keine Massen. Aber mit Salome, Carmen, der »Fidelio«-Leonore, die sie freilich ab Ende der achtziger Jahre nur im Studio gesungen hat.
Ihre beste Platte sind immer noch die »Vier letzten Lieder« unter Kurt Masur von 1982. Am 4. Juli 1989 sang sie zur 200-Jahr- Feier der Französischen Revolution auf der Place de la Concorde vor einem Millionenpublikum weltweit, in die Trikolore gehüllt, die Marseillaise. Danach blieb nur noch der Abstieg in den Ruhm – und in die Talkshows. Ihre wissenden Fans der frühen Jahre sahen es mit Trauer, wie die Platten banaler wurden, das Repertoire seichter, die Auftritte schwächer und vor allem seltener. »Tristan«-Auszüge mit Siegfried Jerusalem, eine spanische Liedplatte und vieles mehr wurden nie veröffentlicht, die immer Schwierigere gab sie nicht frei. Legion sind die Geschichten über die rauch-, blumen- und parfümfreien Garderoben, die Mineralwasserorgien, die Allüren und Extrawürste in den Verträgen. Und wenn nur ein Bruchteil davon stimmt: Man traut es ihr zu. Nicht länger steht die Stimme der Jessye Norman im Mittelpunkt, sondern die Inszenierung einer Diva. Und doch werden wir auch jetzt wieder bang bewegt in ihren Konzerten dabei sein. Wird es ein Flirt mit dem Deasaster oder ein überraschender Triumph? Die Norman, das ist Audienz und Anbetung, Happening und Kult zugleich. Die Masse wird jubeln. Und wenn sie gut war, werden die wahren Fans weinen. Vor Glück und seliger Nostalgie. Weil eine menschliche, musizierende Stimme der Zeit und den Umständen getrotzt hat. //
Konzert in der Tonhalle Düsseldorf am 23. April 2006