Was denn nun: Babylon Berlin oder Hollywood Babylon, oder beides? Jedenfalls ist dieselbe Zeit der späten 1920er-Jahre gemeint, wenn die Hauptstadt des Deutschen Reichs und die Traumfabrik in der kalifornischen Wüste mit dem Namen der urzeitlichen Metropole – von der Bibel als Sündenpfuhl und Stätte der Verderbnis gebrandmarkt – belegt werden. Verdammnis oder Verklärung sind manchmal kaum zu unterscheiden.
Regisseur Damien Chazelle jedenfalls bezieht sich auf ein berühmtes Buch: die Skandalchronik »Hollywood Babylon«, die der experimentelle Filmemacher Kenneth Anger vor 50 Jahren über die Epoche des Stummfilms verfasst hat und in der er aufdeckt, wie es hinter den Kulissen zuging: Sexualität, Gewalt, Alkohol, Kokain und viele schlimme Dinge werden da nicht ohne Genuss ausgebreitet. Als Motto zitiert Anger einen Song aus einem MGM-Musical der goldenen Ära: »Fabulous Hollywood, Celluloid Babylon, glorious, glamorous, City delirious, frivolaus, serious, bold and ambitious, and vicious and glamorous«.
Salopp gesagt: Toll trieben es die alten Filmleute. Chazelle putscht seine »La-La-Land«-Melodie auf, wobei der »Rausch der Ekstase« (so der blöde deutsche Zugabe-Titel) die Trivialmythen eher kolportiert und nostalgisch wiedererweckt und ihnen nachstellt, statt sie als System und Modell zu hinterfragen. Der Film, so divers er sich Post-Weinstein gibt, sieht nicht mal nach Demontage aus, sondern gleicht vielmehr einem Potemkinschen Dorf. Chazelle ist viel zu fasziniert von dem Spektakel, das er anrichtet und zeigt, als dass er es zerlegen, als dass er den Lack abkratzen könnte. Macht und ihr Missbrauch, die Vergötzung des Mammons, um es wiederum biblisch auszudrücken, werden von Chazelles greller Revue vernachlässigt.
Karneval der Lüste
Was bedeutet denn überhaupt: dass die Realität der Filmmenschen sich mit der Zeit auflöst und lichterloh abbrennt wie es mit dem feuergefährdeten Zelluloidmaterial passieren kann? Die industrielle (oft weniger kunstsinnige als kunstfeindliche) Scheinproduktion und das moralische – oder besser: ethische – Nivellieren im Verhalten haben offenbar miteinander zu tun. Das Vulgäre und das Obszöne werden in den Studios gewissermaßen parfümiert, verhüllt, chiffriert, veredelt. Das lässt sich nahezu wörtlich verstehen: Scheiße, die uns als Zuschauer in »Babylon« von einem Zirkus- und Party-Elefanten (indirekt) frontal auf der Leinwand entgegenschwappt, wird vergoldet.
Hollywood war vor 100 Jahren ein feudalistischer Kleinstaat: die einen mit dem Platz an der Sonne, die anderen Fußvolk und Statisten. Das Personal des dreistündigen Films changiert zwischen fiktiven Charakteren und historischer Biografie. Das Pikante erhöht sich in diesem Karneval der Lüste mit dem Kitzel des Authentischen. »Babylon« taucht dabei in den schillernden Sumpf, als sei die akrobatische Kamera selbst die Kino-Nixe Esther Williams in einer der überbordend schäumenden Choreografien des genialen Busby Berkely.
Chazelle zoomt aus dem orgiastischen Gewimmel und Gewoge einige Figuren heran, ohne denen doch viel mehr als Symbolwert zu geben. Sein Held ist der arglos staunende Latino Manny Torres (Diego Calva), der den Elefanten als Knallbonbon für eine Luxusfete besorgt hat, einer, der aufsteigen und es in Hollywood schaffen will und über sein Ziel Würde, Unschuld und Tugend verliert – und im Epilog 20 Jahre später als Fremder noch einmal zurückkehrt; daneben das Starlet und Partygirl Nellie LaRoy (Margot Robbie), die aus der Provinz und ihrer trüben Kindheit in die Welt der Studios und protzigen Villen kommt, in die Manny sich verliebt und die alles – voran ihren Körper – daran setzt, sich durchzusetzen. Schließlich Jack Conrad (Brad Pitt), ein Star auf der schwindelnden Höhe des Ruhms, der den Fall schon in sich selbst enthält. In der Figur, so lässt sich ohne detektivischen Spürsinn entschlüsseln, verbinden sich der nicht mal 40-jährig an einem Herzinfarkt verstorbene John Gilbert, der vor der Kamera häufig Partner der Garbo war, und der ebenfalls vom Herzinfarkt gefällte Douglas Fairbanks, unter anderem Ehemann der einflussreichen Schauspielerin und Mitbegründerin von United Artists, Mary Pickford.
Beide Idole werden von dem sich durchsetzenden Tonfilm mundtot gemacht. Über diese krasse Zäsur wie auch über den verabschiedeten Production Code von 1930, mit dem Hollywood sich selbst einen puritanisch strengen Kodex setzt und das Anarchische, Freakige, Libertinäre und Frech-Frivole knebelt, geht dieses Potpourri fix hinweg, um den nächsten Effekt zu zünden, die nächste Sensation zu beäugen. Wo Damien Chazelles »Babylon« wehmütig sein will, ist es rührselig, wo es analytisch sein müsste, ist es anekdotisch und im Ganzen unentschlossen, ob es Komödie sein soll oder Melodram.
»Babylon«, Regie: Damien Chazelle, USA 2022, 189 Min., Start: 19. Januar