INTERVIEW ANDREAS WILINK
Für Hans-Werner Kroesinger, 1962 in Bonn geboren, hieß die Frage, Jura oder Theaterwissenschaft. Er studierte beides. Letzteres am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Seine dokumentarische Arbeit verbindet diese Disziplinen. An die 60 Produktionen sind es seit 1993, von Büchner, Beckett, Cassavetes, Eisler und Co. hat er sich fortbewegt zu Projekten, die das Herz der Finsternis beleuchten und sich mit den Verfehlungen des 20./21. Jahrhunderts beschäftigen. 2000 Seiten Lektüre als Vorbereitung für ein neues Thema sind Standard. In seinen (mit seiner Frau Regine Dura entwickelten) Stücken sehe er »eher ein Arbeits- als ein Erlebnisangebot«, sagt der in Berlin lebende Künstler. Seine Recherchen, Analysen, Prüfungen beziehen sich auf die Schlachtfelder der Erinnerung, auf Gewaltkonflikte, politische Entscheidungsprozesse, ihre Mechanismen und Widersprüche, auf Krieg und Völkermord, etwa in Ruanda, Somalia, Armenien, im Kosovo, das Vorgehen der europäischen Grenz-Agentur Frontex, auf Kindertransporte, Adolf Eichmann in Jerusalem, Politik und Kapital. Vor wenigen Wochen untersuchte er mit »Swap – Wem gehört die Stadt?« in und über Linz Spekulations- und Bankgeschäfte. Für sein Projekt »Stolpersteine« am Staatstheater Karlsruhe über die Entrechtung und Entfernung jüdischer Künstler während der Nazizeit wurde er 2016 zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
Am 2. April (11 Uhr, Central) diskutiert Kroesinger auf Einladung von k.west und dem NRW KULTURsekretariat in Zusammenarbeit mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus u.a. mit Regisseur Herbert Fritsch, mit Intendant Wilfried Schulz und Marc Grandmontagne (Deutscher Bühnenverein). Das Thema lautet: »Was soll das Theater? – Bühnen unter Druck zwischen gesellschaftlichem Auftrag und künstlerischer Autonomie«. WDR 3 zeichnet die Veranstaltung auf und sendet sie am 9. April, 19.04 bis 20 Uhr.
k.west: Herr Kroesinger, Sie sind Grenzgänger. Sie überwinden Grenzen des literarischen Erzähltheaters, indem sie den »Wirklichkeitsablagerungen« nachspüren. Sie schauen sich an politischen und historischen Grenzen um, messen die Grenze von Gebotenem und Verbotenem aus. Es entstehen Verhandlungen, in dem Schauspieler Beweismaterial ausbreiten. Sind Sie Richter oder Staatsanwalt?
Hans-Werner Kroesinger: Weder noch, zu beidem fehlen mir die Voraussetzungen auf dem Theater. Uns geht es um die Annäherung an konkrete Probleme. Unsere Themen überfordern uns fast immer. Wir entwickeln eine klare Fragestellung, zu der wir uns verhalten können/ müssen, entwickeln Verhandlungen, in denen wir Positionen beziehen, aber, wie es in Müllers »Hamletmaschine« heißt: »auf beiden Seiten der Front«. Das führt zu einem Gefühl des Unbehagens, denn die Wirklichkeit ist komplexer, als sie uns erzählt wird. Es geht um Beschreibungshoheiten, darum, wie Narrative zu realen Ereignissen entstehen, wie sie in Formen gegossen, welche Interessen sichtbar werden. Wir untersuchen Sprache, denn sie strukturiert unser Denken – und das Theater ist ein guter Ort, sie auseinanderzunehmen, um sie anders wieder zusammenzusetzen. Wenn ich beim Bild des Gerichts bleibe, sind wir eher die Zeugen, die widersprüchliche Impulse aufnehmen.
k.west: »Das ABC des Menschenbenehmens« nennt Thomas Mann in seiner Moses-Erzählung »Das Gesetz« die Zehn Gebote, und dass es demjenigen selbst »eiskalt ums Herz« werden soll, der sie bricht. Sind Sie ein gläubiger Mensch?
HWK: Nicht im Sinne einer Religion, aber ich glaube daran, dass jeder Mensch immer wieder für andere nicht nachvollziehbare Entscheidungen treffen, dass sich das Dasein blitzartig ändern kann. Es gibt einen Grad von Kälte, der sehr heiß ist. Wenn Sie Trockeneis anfassen, verbrennen Sie sich die Finger, die Haut bleibt kleben.
k.west: Ihr Gießener Kommilitone René Pollesch sagt, es gehe ihm nicht um Vermittlung zwischen Bühne und Parkett. Sie hingegen wollen vermitteln: Fakten und Skepsis ihnen gegenüber, Einsicht, Haltung. Gibt es dafür eine Grenze des Möglichen im Kunstraum?
HWK: Klar, es gibt Grenzen – die immer wieder überschritten werden können. Im Theater befinde ich mich in der Gesellschaft von Fremden, was uns verbindet, ist das Anwesend-Sein in einem Raum zum gleichen Zeitpunkt. In unsere Aufführungen kommen häufig Leute wegen des Themas, nicht unbedingt leidenschaftliche Theatergänger. Aber sie haben Bezug und eine Haltung zum Stoff und sind meist überrascht, dass er auf der Bühne verhandelt wird. Das Publikum macht die Erfahrung einer Differenz – es positioniert sich, da wir einer Strategie der Überforderung folgen. Wir helfen dem Zuschauer nicht, lassen ihn mit dieser Überforderung allein. Vielleicht führt diese Erfahrung aber dazu, dass ein Bedürfnis entsteht, sich zu verorten. Wir werfen einen Stein ins Wasser, der für uns Kreise zieht.
k.west: Ende der 1980er Jahre waren Sie Assistent von Robert Wilson und dann Mitarbeiter von Heiner Müller am Berliner Ensemble – vermutlich zwei sehr unterschiedliche Erfahrungen. Hier am äußersten Punkt einer fast sprachlosen Ästhetik, dort die hohe Form der Sprachsetzung. Hier Bild, dort Wort. Sie haben sich für das Wort entschieden. Was hält Ihre Fragelust lebendig?
HWK: Neugier. Ich bin immer wieder überrascht, was in unserer Gesellschaft passiert. Und wie uns davon erzählt wird. Wie Beschreibungshoheiten entstehen, wie willig wir ihnen folgen. Ich bin von Sprache fasziniert. Im Arbeitsprozess ist es meist so, dass nicht alles Material Eingang findet. Was auf der Strecke bleibt, wird oft Material für ein neues Stück. Die Geschichten konstruieren Zusammenhänge, die meist komplexer sind, als sie zunächst scheinen. Die Geschichte zerfällt in Geschichten. Wir sind Teil davon. Ich habe von Wilson und Müller vieles gelernt, aber in erster Linie wahrscheinlich, das zu tun, was einen selbst interessiert, eine gewisse Sturheit in Bezug auf die eigene Arbeit und Respekt vor den Leuten, mit denen man sie entwickelt.
k.west: Sie sind eifriger Zeitungsleser. Finden Sie dort Ihre Themen?
HWK: Ich lese leidenschaftlich gerne Zeitung, auch Wirtschaftszeitungen. Diese müssen nicht aktuell sein, manchmal ist es aufschlussreich, alte zu lesen. Mit dem Wissen der Gegenwart erscheinen kleine Meldungen aus der Vergangenheit plötzlich nicht mehr wie Randnotizen. Denn fast nichts, was passiert, geschieht ohne Entwicklung. So erzählt die Zeitung von gestern oder vorvorgestern von unserer Aufmerksamkeitsspanne zu diesem Zeitpunkt. Das schärft die Wahrnehmung für die Gegenwart – denn wie uns Geschichte erzählt wird, hat meist mit dem zu tun, was man in der Zukunft vorhat. Ich versuche, etwas zu verstehen, das Scheitern daran schafft neue Fragestellungen. Vielleicht ist unsere Arbeit eine Art Büro für ungewollte Fragen.
k.west: Es gibt einen krassen Ausspruch von Foucault: »Der einzige Ort, um in den heutigen Städten noch ein Theater zu bauen, wäre der Friedhof.« Verstehen Sie, was gemeint sein könnte?
HWK: Nicht wirklich, aber ich teile Foucaults Vorliebe für Friedhöfe. Auf dem Friedhof besucht man sich selbst, es ist eine Reise in die eigene Zukunft, in der man nicht mehr anwesend sein wird. Ein Ort der Entdeckungen, oft der Stille, des Schweigens, man befindet sich in Gesellschaft derer, die bereits gegangen sind. Bei Brecht heißt es: »Fast ein jeder hat die Welt geliebt, wenn man ihm zwei Hand voll Erde gibt.«