INTERVIEW: DINA NETZ
Christian Boltanski, geboren 1944 in Paris, ist einer der bekanntesten internationalen Künstler. Seit den 60er Jahren spürt er in seinem vielfältigen Werk den Spuren der Erinnerung, den Abgründen des Herkommens und den dunklen Seiten des Lebens und der Geschichte nach – in Filmen, Fotografien, Rauminstallationen. Für die RuhrTriennale bereitet Boltanski zusammen mit der Regisseurin Andrea Breth und dem Lichtdesigner Jean Kalman eine »szenische Installation« vor mit dem Titel »Nächte unter Tage«, die in der Mischanlage der Kokerei auf der Essener Zeche Zollverein zu sehen sein wird. Diese erste Inszenierung der neuen Triennale-Intendanz Jürgen Flimms hat am 25.8. Premiere.
K.WEST: Da Ihre Kunstwerke oft temporär sind, passt das Theater eigentlich gut zu Ihrer Arbeit…
BOLTANSKI: Ja, ich arbeite schon seit langem fürs Theater. Mich interessiert daran, eine Form zu finden zwischen der künstlerischen Installation und dem Spiel. Doch diese Projekte unterscheiden sich alle von üblichen Theaterprojekten. Einerseits dauern sie lange, oft vier oder sechs Stunden; andererseits kann man rein- und rausgehen, wann man will, das ist also wie bei einer Kunstausstellung. Es mir wichtig, dass die Zuschauer über ihre Zeit verfügen. Außerdem lege ich Wert darauf, dass man nicht vor einer Darbietung sitzt, sondern in etwas involviert ist – der Zuschauer muss einen Weg zurücklegen, sich bewegen.
K.WEST: Sie haben betont, dieses Projekt als Team zu leiten – heißt das, alle sind für alles zuständig?
BOLTANSKI: Ich weiß nicht, was das ist: ein Bühnenbildner. Dieser Beruf erscheint mir vollkommen lächerlich. Ich habe das ein paar Mal gemacht, und es ist meist ziemlich schiefgegangen. Hier handelt es sich wirklich um eine gemeinsame Arbeit, die wir zu dritt prägen, ohne dass einer von uns besonders hervorsticht.
K.WEST: Wie genau muss man sich vorstellen, was in der Kokerei der Zeche Zollverein passieren wird?
BOLTANSKI: Es gibt einen Ablauf, einen Weg, und dieser Weg hat keine exakt definierte Zeit. Während der Aufführung geschieht eine Reihe von Dingen, die so etwas sind wie Stationen auf dem Leidensweg Christi. Diese Ereignisse können Schauspiel, Musik, aber auch Sinneseindrücke sein – zum Beispiel dass man auf etwas drauftritt, von etwas geblendet wird, im Dunkeln steht, sich verläuft. Ich versuche meine Arbeit immer mit einem Beispiel zu erklären (und hier spreche ich nicht unbedingt für Andrea Breth): Stellen Sie sich vor, Sie kommen an einer Kirche vorbei. Sie sind nicht besonders gläubig, aber weil Sie einfach Lust dazu haben, betreten Sie die Kirche. Dort läuft eine Zeremonie ab, die Sie nicht verstehen. Der Pfarrer hebt die Arme, Weihrauch, Musik, Menschen, die aufstehen und sich wieder setzen, die Sonne scheint durch die Fenster. Sie erfassen nicht genau was geschieht, aber Sie wissen, dass es von Bedeutung ist. Und dann treten Sie wieder hinaus ins Leben. Das ist die beste Definition, die ich von meiner Arbeit für die RuhrTriennale geben kann.
K.WEST: Als thematischer Ausgangspunkt dient die Erzählung »Die Bergwerke zu Falun« von E.T.A. Hoffmann. Der Protagonist Elis Fröbom reist darin nicht nur in den Berg, sondern – als guter Romantiker – auch in sein eigenes Inneres. Ist das das Ziel dieses Weges?
BOLTANSKI: Ja, das ist auf jeden Fall auch darin enthalten. Diese Reise hat sehr viel mit dem Raum zu tun. Man fährt mit der Seilbahn auf das Dach – man bricht also auf Richtung Himmel –, und dann steigt man hinab in die Tiefen der Erde. Dazwischen liegen verschiedene Ebenen und Stationen. Ich verstehe das auch ein bisschen so, dass am Anfang Körper stehen und am Schluss Seelen; also ist dieser Weg der vom Körper zur Seele. Zu Beginn gibt es eine größere Menge menschlicher Kleidungsstücke, die die Körper repräsentieren, und diese Kleidungsstücke zerfallen immer weiter, so dass am Ende nur noch die Seelen übrig sind.
K.WEST: Wie verbinden Sie Ihre Aufführung mit dem Ort, der Kokerei?
BOLTANSKI: Auf der einen Seite gibt es diese Idee des Hinabsteigens, ins Zentrum von etwas vorzustoßen. In E.T.A. Hoffmanns Text steht im Zentrum ja schließlich das Licht. Also steigt man immer weiter hinab und kann in den Tiefen das Licht finden. Außerdem arbeiten wir auch mit dem Begriff der Transformation, in Analogie zur Zeche, die die Gestalt der Kohle verändert.
K.WEST: Spielt das Ruhrgebiet nur durch den Ort oder auch inhaltlich eine Rolle?
BOLTANSKI: Ich glaube, man muss die ehemaligen Bergarbeiter in das Projekt einbinden. Denn die Zechen sind prachtvolle Bauwerke, die für die Erinnerung unbedingt bewahrt werden müssen. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass es für einen Bergmann, der nach 20 Jahren seine Arbeit verloren hat, schmerzhaft sein muss zu sehen, dass der Ort, der ihm gehörte, seine Zeche, sein Arbeitsplatz, jetzt ein Ort für die Reichen ist. Denn auch wenn das Museum für alle geöffnet ist, gibt es eine kulturelle Barriere – sie fühlen sich dort nicht mehr zu Hause. Deshalb wollen wir ehemalige Bergarbeiter an »Nächte unter Tage« beteiligen.
K.WEST: Kehren wir zurück zu den Romantikern: Novalis oder E.T.A. Hoffmann zum Beispiel begeisterten sich durchaus für den Bergbau – das Innere der Erde als Tor zum eigenen Inneren. Natürlich haben sie sich aber auch mit den entfremdeten und zerstörerischen Aspekten des Bergbaus auseinandergesetzt. Spielt diese ambivalente Sichtweise der Romantiker in »Nächte unter Tage« eine Rolle?
BOLTANSKI: Wir legen für unsere Aufführung eher den Akzent auf die zerstörerischen Aspekte. Aber es gibt tatsächlich diese zwei Elemente: die Fabrik als Zerstörerin des Menschen und gleichzeitig der Weg zur Erkenntnis in der Erde. Vieles von dem, was wir zeigen werden, wird extrem schwer erträglich sein, nicht physisch, aber moralisch, denn es geht um die Zerstörung von Körpern. Das ist kein Zeitvertreib, das ist eine Reise der Beklemmung, die aber am Ende tatsächlich zu einer Art göttlichem Licht führen kann.
K.WEST: Hat unsere Zeit nicht ziemlich viel mit dem 19. Jahrhundert gemeinsam: auf der einen Seite eine entfesselte Ökonomie, auf der anderen Seite die Suche nach Sinn, der Rückzug ins Private, die Respiritualisierung?
BOLTANSKI: Ich denke häufig, dass unsere Epoche der romantischen Periode in Deutschland sehr ähnelt. Man kann die deutsche Romantik nur verstehen, indem man das vollständige Scheitern der Französischen Revolution sieht, was Napoleon und Hunderttausende Tote zur Folge hatte. Deshalb konnten sie keiner kollektiven Utopie von der Veränderung der Welt auf politischem Wege mehr Glauben schenken. Die deutschen Romantiker lebten in einer konservativen Welt, in der sie nicht glücklich waren. Aber sie wussten, dass eine politische Utopie extrem schwierig umzusetzen ist. Und daher haben sie sich auf eine individuellere und mystischere Utopie zurückgezogen. Was ich jetzt sage, ist nicht sehr originell: Meine Generation war ebenfalls sehr stark mit der politischen Utopie verbunden – wir haben durch die unzähligen Toten Stalins und das Scheitern des Kommunismus gelernt, dass die Utopie zu Katastrophen führt. Daraus resultierten Ablehnung und Angst vor der Utopie und eine Rückkehr der Skeptiker, Spötter und Individualisten. Aber es ist nicht möglich, ohne Utopie zu leben. Und deshalb gibt es jetzt nach dieser sehr unglücklichen utopielosen Zeit vielleicht wieder eine Rückkehr der Utopie. Man spürt heute das noch schwache Beben einer neuen Utopie, die vielleicht eine mystische oder eine andere politische Form annehmen wird. Und so nähern sich die Epoche der Romantiker und unsere einander an.