Eine normale Kindheit in der deutschen Provinz, bürgerliche Verhältnisse, liebende Eltern, Selma und Paul, die zwei älteren Schwestern – Anne, die von Käthe bewundert wird, und Lise, die der Jüngsten inniglich anhängt. Aber es gibt einen Unterschied: Die Familie heißt Löwenthal, und es sind die dreißiger Jahre in Deutschland. Die Stadt, in der sie leben, ist Bielefeld, wo die jüdische Reformgemeinde 1000 Mitglieder zählt. Bald kann Paul nicht mehr als Architekt arbeiten, bald müssen sie die Wohnung wechseln, wird das Geld knapp, haben sie Deklassierung, Ausgrenzung, Entrechtung, Drangsalierung und Schmähung zu verkraften. Bald kommt die Angst bei ihnen an.
»Als Kleinkind war Käthe niemals allein.« Das ist ein Anfang, der erste Satz des Buches, der nichts ahnen lässt von dem, was folgt. Auf Seite 19 von »Das Unterkind« heißt es dann: »Damals hieß der Park Bürgerpark, später wurde er in Adolf-Hitler-Park umbenannt, und jüdische Bürger durften ihn nicht mehr betreten.« En passant ruft die Autorin jene Veränderungen auf, die mit der Herrschaft des NS-Regimes eintreten. Die Autobiografie wurde jetzt vom Düsseldorfer Lilienfeld Verlag sorgsam neu herausgegeben und mit einem Nachwort von der Tochter Naomi Shmuel versehen.
Als Kind heißt sie Käthe, wie vieles andere noch wird auch der Name nicht bleiben. Karen Gershons sagt nicht ‚Ich’. Sie sei, schreibt die Autorin als Vorbemerkung, dazu nicht in der Lage gewesen. Sie spricht in der dritten Person von sich. Legt Abstand zwischen sich und den Menschen, von dem sie erzählt. Emotionen haben einen Reinigungsvorgang zu durchlaufen. Das tut Literatur, und Literatur ist dieser Lebensbericht. Weshalb? Weil Karen Gershon (1923-1993) eine eigene Sprache hat – präzise, knapp, schlank, sachlich. Und weil sie Zuschreibungen vornimmt, die aus Erinnerung, psychologischer Erkenntnis und deren analytischer Betrachtung bestehen.
Da wird nirgends falscher Goldglanz aufgetragen, kommt keine Sentimentalität auf, schwächt auch nicht Hass ihre Wahrnehmung. Sie berichtet und kommentiert nüchtern den Hitlerismus, alltägliche Gemeinheit und die Landläufigkeit des Bösen. Allein für das Schluss- und Abschiedskapitel scheint sie sich gestattet zu haben, ihr Weh deutlicher zu zeigen.
Als Unterkind hat Käthe sich schon vor 1933 betrachtet, in dem Sinn, dass es ihr unmöglich sein würde, ihre beiden Schwestern je einzuholen. Das fantasievolle Mädchen liebt Geschichten und spürt Befriedigung, sie zu erzählen. Die künftige Lyrikerin und Schriftstellerin bildet sich bereits heraus.
Psychologisch feinfühlig erkundet sie eigene Beweggründe und Motivationen ihrer Umgebung wie Eifersucht, Enttäuschung und Verachtung, Gefallen-Wollen, Verliebtsein und die Entfremdung zwischen sich und Schwester Lise. Da wird ihre Leidenschaft für die arische Klassenkönigin Ingrid bitter enttäuscht, eine Erfahrung, die sich wiederholt und sie den schlimmen Satz schreiben lässt: »Käthe wünschte sich oft, nie geboren zu sein.« Scharfsinnig schätzt sie die Ehe ihrer Eltern ein und deren Wesen und Charakter; ebenso durchleuchtet sie die kleine Käthe, die zur »privilegierten Mehrheit« gehören und am liebsten in den BDM eintreten möchte, um sich dann doch dem Zionismus anzuschließen, und die sich schwertut, sich selbst anzunehmen. Die Außenseiterin, einerseits von sich überzeugt und dennoch in sich unsicher, hat ein ambivalentes Selbstwertgefühl.
Karen, die 15-jährig mit einem Kindertransport nach England gelangt, schaut zurück auf Käthe und die Ihren mit erstaunlicher Klarheit. Als würde das Instrumentarium der Abstraktion – die dennoch konkretes Schildern von Situationen, Episoden, Beziehungen, Empfindungen, ihre Internatserfahrungen und manches mehr beinhaltet – helfen oder überhaupt ermöglichen, in den tiefen »Brunnen der Vergangenheit« (Thomas Mann) zu blicken. Ein Schacht, kühl bis ans Herz, um dem Wundbrand zu entgehen. Wie lebt ein Mensch mit diesen Erschütterungen: der verlorenen Kindheit und Heimat, den in die Lager verschleppten und ermordeten Eltern und Verwandten, der gebrochenen Existenz?
In England wird sie heiraten, vier Kinder bekommen, für einige Jahre nach Israel und wieder zurück nach Somerset ziehen. Sie wird sich mit Schuldgefühlen, der Verlusterfahrung, ihrem Mangel an Selbstbewusstsein und ihrer Selbstverleugnung auseinandersetzen und neue Nähe zu ihrer in Rom lebenden Schwester Lise herstellen. An sie schreibt Karen Gershon drei Jahre vor ihrem Tod nach einer Herzoperation: »Ehrlich gesagt, Du weißt es ja, finde ich das Leben sehr schwer, – besser ausgedrückt, ich finde es sehr schwer, zu leben«.
Karen Gershon: Das Unterkind
Aus dem Englischen von Sigrid Daub
mit einem Nachwort von Naomi Shmuel
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2023, 312 Seiten, 24 Euro