// Es ist nicht so, als hätte es den »Bildern einer Ausstellung« je an Aufmerksamkeit gemangelt. Neben Vivaldis »Vier Jahreszeiten« belegt dieser Klavierzyklus von Modest Mussorgsky allein auf der Hitliste der meistarrangierten Werke den absoluten Spitzenplatz. Selbst der »Bielefelder Katalog«, die Übersichtsbibel aller derzeit verfügbaren Klassik-CDs, listet aktuell knapp 150 Einspielungen auf (die Dunkelziffer von den in Archiven lagernden Aufnahmen dürfte im vierstelligen Bereich liegen). Vom Klavier-Original über die Orchestrierung von Maurice Ravel bis zu Transkriptionen wahlweise für Orgel, 88 Klavierhände oder ein Akkordeon gibt es Mussorgskys imaginären Bilderreigen in allen Variationen. Doch 2009 wird als das Klavierjahr in die Interpretationsgeschichte eingehen, in dem diesem berühmten Repertoire-Schlachtross in zweifacher Ausführung noch einmal richtig Beine gemacht worden sind.
Von dem russischen Klavier-Tornado Vladimir Horowitz ist ein bislang unveröffentlichter Live-Mitschnitt erschienen, bei dem er 1948 in New York »Das große Tor von Kiew« atemberaubend virtuos in Schutt und Asche legte. 61 Jahre danach, im November 2009, ging dagegen der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes mit diesem Finalstück der »Bilder einer Ausstellung« regelrecht baden – bei der Uraufführung des Mussorgsky-Projekts »Pictures Reframed« im New Yorker Lincoln Center. Auf einer riesigen Videoleinwand konnte man erleben, wie Andsnes in froschgrüner Regenjacke und sein Flügel erst langsam nasse Füße bekamen, bevor die Schleusen eines Schiffsdocks komplett geöffnet wurden und die Wassermassen über ihn stürzten. Konnte wenigstens der Interpret noch herausgefischt werden, schlug hingegen für sein Instrument der Traditionsmarke Ibach das letzte Stündlein.
Verantwortlich für die spektakuläre Dokumentation vom Untergang eines Flügels war der südafrikanische Aktions- und Video-Künstler Robin Rhode, für den sich der Flügel »in eine Art von versunkenem Schatz verwandelt, den man neu entdecken muss«. Mit den Titanic-haften Bildern und zu den Live-Klängen vom »Großen Tor von Kiew« endete die erste multimediale Neudeutung von Mussorgskys Klavierklassiker.
Nach der Vernissage in NYC präsentieren Andsnes & Rhode nun ihre »Pictures Reframed« als große Klang-Kunst-Installation – während ihrer Welttournee – auch in der Kölner Philharmonie. Umgeben von sechs raumgreifenden Videoleinwänden, spielt Andsnes dann das 1874 komponierte Werk, mit dem Mussorgsky an den kurz zuvor verstorbenen Freund und Maler Victor Alexandrowitsch Hartmann erinnern wollte. So wenig aber die Stücke eine lautmalerisch exakte Inhaltsangabe von Hartmanns Gemälden sind, so sehr hat sich Robin Rhode von den einzelnen Titeln zu ganz unterschiedlichen Filmclips inspirieren lassen. Mal sind es experimentelle Schwarz-Weiß-Animationen, die sein Faible für den russischen Konstruktivismus und für Man Ray widerspiegeln. Dann wieder macht er aus Mussorgskys »Ochsenkarren« einen modernen Zug: als Referenz an seine südafrikanische Heimat, wo die Landbevölkerung sich in Zugabteile quetscht, um in den Städten nach Arbeit zu suchen. Andsnes taucht selbst zwischendurch immer als Teil der Rhodes-Bilderwelt auf, wenn er sich etwa an die Silhouette eines gezeichneten Flügels stellt und gestenreich in die Tasten zu greifen scheint.
Gerade Rhodes’ filmische Vieldeutigkeit, seine Poesie und sein Sinn für das Verspielte machten für Andsnes den Reiz aus, einen anderen Weg zu diesem Standardwerk einzuschlagen: als Kollision, aber auch in der organischen Synthese von Ton und Bild. Andsnes weiß, dass solch ein Dialog zwischen Musik und Film eine gewisse Herausforderung an den klassischen Konzertgänger stellt. Doch will »Pictures Reframed« nicht nur das Korsett eines Klavierabends durchbrechen. Angesichts der siechenden Klassik-Industrie hat man auch das jüngere Publikum im Visier, das sich lieber in Galerien als in Konzerthäusern trifft. Für sein interdisziplinäres Experiment schien insofern für Andsnes ein zeitgenössischer Künstler der richtige Partner zu sein, der das Sehvokabular der Post-MTV-Generation ausbuchstabiert.
Robin Rhode, der inzwischen in Berlin beheimatet ist, hat trotz seiner 33 Jahre bereits gewichtige Stationen im arrivierten Kunstbetrieb absolviert, hat bei der Biennale in Venedig seine genreübergreifenden Arbeiten ebenso gezeigt wie im New Yorker Museum of Modern Art. Speziell die immer wieder auf nackte Wände rasant hingeworfenen Phantasie-Gebilde erinnern jedoch an seine Zeit als Street-Art- und Graffiti-Künstler. Musik spielte bei seiner Arbeit stets eine wichtige Rolle. Doch statt Klassik hörte er bislang lieber HipHop und Rap. Ganz neu war ihm jedoch Mussorgskys Klavierwerk nicht, denn Rhodes hatte noch das Motiv der wiederkehrenden »Promenade« im Ohr, das in den Neunzigern einmal vom Rapper Method gesampelt worden war.
Leif Ove Andsnes wiederum staunte jüngst nicht schlecht, wie populär gerade die markant stramme Rhythmik dieses kleinen Stücks ist: »Als Michael Jackson starb, habe ich auf Youtube einen Clip seiner letzten Probe gesehen, dort haben sie es auch benutzt«, erinnert er sich. Ansonsten gehört Andsnes nicht zur Fraktion der Klassik-Stars, die mehr schlecht als recht mit Pop und Rock flirten. Der zurzeit berühmteste Klassik-Export Norwegens, der mit allen großen Orchestern zusammengearbeitet hat, kundschaftet lieber vernachlässigte Ecken des Repertoires aus, von Leoš Janáček über Witold Lutoslawski bis zum gemäßigten Neutöner Marc-André Dalbavie.
Dass Andsnes ein Musiker ist, der sich mit ganzem Körpereinsatz in eine Sache wirft, hat er nicht nur bei den feuchten Filmaufnahmen zu »Pictures Reframed« bewiesen. Als 2007 im Zeichen des 100. Todestages seines Landsmanns Edvard Grieg stand, spielte Andsnes dessen berühmtes a-Moll-Konzert nicht etwa im klimatisierten Konzertsaal. Per Hubschrauber ließ er sich einen Flügel auf ein Felsplateau hoch über einem Fjord stellen. Eingemummelt in einen dicken Pullover, genoss er in luftiger Höhe zu den Klängen Griegs die faszinierende Weite der Landschaft – trotz Absturzgefahr. //
20. Dezember 2009; Kölner Philharmonie; www.koelner-philharmonie.de