TEXT: JÖRG BUDDENBERG
Kairos – das ist in der griechischen Mythologie jener Augenblick der Entscheidung, in dem Wille und Schicksal ineinander greifen und sich fügen zu gemeinsamer Bestimmung. Von Zeit zu Zeit allerdings muss das Schicksal in die Warteschleife, weil der Wille auf dem Weg kommunaler Entscheidungsfindung abhanden zu kommen droht.
Rückblick. Es ist Jubiläumsspielzeit, das 1904 gegründete Theater Bielefeld wird 100. Eine seit Jahren drängende bühnentechnische und bauliche Sanierung war mit einem Stiftungsmodell auf den Weg gebracht, Intendantin Regula Gerber, seit 1998 im Amt, sollte vorzeitig ans Mannheimer Nationaltheater wechseln. Und eine mit künstlerisch wohlbestalltem Blick ausgestattete Findungskommission hatte die Regisseurin Thirza Bruncken zur Nachfolge erkoren. So weit, so bestimmend fürs Theater. Doch dann schwand der Wille und das Schicksal musste umdisponieren. Bruncken, eine mit kühlem Beobachterblick und ausgeprägtem Stilwillen ausgestattete Kunstarbeiterin, wird zwar gewählt, doch der Rat der Stadt folgt der Empfehlung der Kommission nur knapp. Auf dem Rücken dieser Personalsache betreiben SPD und PDS wahlkampftaktische Scharmützel. Zusätzlich verbreitet die Vertretung der Theatermitarbeiter ihr Missfallen an der Wahl. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin erhält Bruncken keine verbindlichen Etat-Zusagen. Zwölf Stunden nach ihrem Pressetermin als gewählte Intendantin zieht Thirza Bruncken die Notbremse und steigt aus: Kairos perdu.
Knapp eine Woche später, kommunaler Wille ist mittlerweile ratlos, ist das Schicksal einem günstig, dessen Berufung noch kurz zuvor schon aus verfahrenstechnischen Gründen unmöglich gewesen wäre. Die Wahl von Michael Heicks, seit drei Jahren bereits auf der Position des Schauspieldirektors, ist eine Hausberufung, rettet gleichwohl das Gesicht der Stadt. Und plötzlich geht es auch voran mit der Billigung des Wirtschaftsplanentwurfs: 16,5 Millionen Euro zuzüglich Personalkostensteigerungen werden jährlich gewährt, um dem designierten Intendanten »vorab« Handlungsmöglichkeiten zu geben. Seit Januar diesen Jahres ist Heicks nun geschäftsführender Intendant, Regula Gerber wird am 18. März offiziell verabschiedet. Ihre Bielefelder Zeit war ereignisreich; ihr Führungsstil nicht immer unumstritten, die Ära aber, alles in allem, für die Stadt ein Erfolg. Gerbers Start war nach den 23 Jahren ihres Vorgängers Heiner Bruns mit Querelen belastet, die denen, die Thirza Bruncken zu erwarten gehabt hätte, in nichts nachstanden.
Das neue Musiktheater, das Gerber mit einer Buffo-Oper von Claus Kühnl und mit Carola Bauckholt startete, war für die ehemalige Leiterin der Stuttgarter »Rampe« ebenso programmatisch wie ihre Ur- und Erstaufführungsreihe im Schauspiel. Als leitenden Regisseur brachte sie den Leipziger Hermann Schein mit, dessen zugreifender, einem sozialen Realismus verpflichteter Stil einen interessanten Kontrast hergab zum einfühlsam Psychologischen, mit dem die Intendantin selbst arbeitete. Ihr »Baumeister Solness« war da Beginn und Höhepunkt zugleich. Bereits nach drei Spielzeiten trennten sich die Wege dieses so ungleichen Paares, ein Teil des Ensembles verließ mit dem leitenden Regisseur das Haus. Michael Heicks wurde daraufhin Schauspielchef, doch erst mit einem Wechsel in der Dramaturgie sollte sich jenes Ensemble herauskristallisieren, das ihm nun auch in seine Intendanz folgen wird. Gerber selbst inszenierte derweil ihre einzige Oper, Janáceks »Katja Kabanova«, und akzentuierte damit auch in der eigenen Regiearbeit, wo die Prioritäten des Hauses angesiedelt waren. »Kabanova« ist eine Art künstlerisches Vermächtnis. Dem slawischen Repertoire verbunden, fokussierte sie Janáceks musikalische Menschenbeschreibung als Spiegelung einer zerstörerischen Außenwelt in einem traumatisierten Innern der Titelfigur. Sandra Meurer, die mit ihren farbintensiven, emotional korrespondierenden und mit überraschenden Perspektiven aufwartenden Bühnenlandschaften die stilbildende Ausstatterin der Gerber-Jahre gewesen ist, baute für »Kabanova“ mächtige Staumauern, die Naturkraft des Flusses und Gefühlsfluten der Katja in Beziehung setzten.
Als Intendant wird Michael Heicks weiter Schauspieldirektor bleiben, sein die Geschäfte führender Dramaturg Uwe Bautz, seit zwei Jahren am Haus und mit Ost- wie Westerfahrungen gleichermaßen gerüstet, soll in die Rolle des Stellvertreters hinein wachsen. Heicks’ erste Personalie war der Laufpass für Ballettchef Philip Lansdale und dessen elfköpfiges Ensemble. Gregor Zöllig, Choreograf und Leiter des Tanztheaters der Städtischen Bühnen Osnabrück, wird nach sieben Spielzeiten neoklassizistischem Ballett unter Lansdale die Sparte übernehmen. Mit dem Folkwang-Absolventen und Pina-Bausch-Schüler Zöllig vollzieht sich damit ein radikaler Kurswechsel in Richtung modernes Tanztheater.
Im Musiktheater heißt der künstlerische Betriebsdirektor Joel Revelle, bislang Gießener Opernchef und im vergangenen Sommer pikanterweise aussichtsreicher Mitbewerber um die Gerber-Nachfolge. Zur Seite steht ihm mit Anke Hoffmann vom Oldenburgischen Staatstheater eine Spezialistin für neues Musiktheater als geschäftsführende Dramaturgin. Die Oberspielleitung Oper bleibt unbesetzt, Gregor Horres, bislang hier in der Verantwortung, soll dem Haus als Regisseur verbunden bleiben. Zusammen mit dem bisherigen und künftigen Generalmusikdirektor Peter Kuhn soll das von Gerber voran getriebene neue Musiktheater ausgebaut werden. Doch Geld ist knapp und Kooperation, so Heicks, wird das Stichwort der Stunde sein. Mit Blick auf Sponsoren träumt er andererseits von einem Opernstudio im bis 2006 generalsanierten Großen Haus, das bis zum Neubezug jedoch noch eine schwere, von Umzuglogistik geprägte Spielzeit vor sich hat.
Die zweite Spielstätte, das Theater am Alten Markt, wird Heimat des Schauspiels bleiben. Mit der täglich geöffneten Bar »Lorca“ ist dort endlich eine Restauration eingezogen, die zur Belebung von Theater und Platz beiträgt und die Heicks als ersten Erfolg verbuchen kann. Der Stadt will man sich stärker inhaltlich stellen. Ein erster Versuch hierzu ist Tom Peuckerts »Luhmann“, eine Auftragsarbeit des Theaters (siehe Seite 33).
»Wir müssen Spaß und Ernst gleichermaßen leisten“, sagt Michael Heicks, Theater für die Nische werde es nicht geben. Für dieses Konzept steht bereits seine aktuelle Tschechow-Interpretation. Heicks »Platonov“ ist ein lebensbetonter, zum Teil recht lauter Streifzug durch eine untergehende Gesellschaft, die die Regie auf der bis ins Parkett gezogenen Wohn- und Tanzsaalbühne von Annette Breuer jedoch nicht um jeden Preis an eine Zeitaktualität verkauft. Immer wieder entwickeln sich Szenen vorne an der Rampe, beleuchten unterschiedliche Geschichten und Figuren. Zwischendurch vereinigt sich das 12-köpfige Ensemble zu den Klezmer- und Sinti-Klängen eines Live-Quartetts zum Chor. So wird einer szenischen Synthese Raum gegeben aus prallem Kammerspiel und episch unterlegten Gesellschaftsszenen, die der auf Tempo setzenden Drei-Stunden-Fassung zugute kommt. Heicks verrennt sich nicht einseitig in die Perspektive des oft wie ein trotziges Kind haspelnden Platonov (Thomas Wolff), skizziert stattdessen ein mit viel Fremdtext ausgestattetes Figurenpanorama. Als Gegenpol zum Quälgeist Platonov entwickelt sich Christina Huckles Generalin, die das Geschehen zunehmend an sich zieht. Eine starke Vorstellung, deren Protagonistin zwar ebenso scheitert wie alle anderen, sich im Scheitern jedoch befreit von gesellschaftlichen Zwängen und Lebensängsten. So endet der Abend mit einer Gegenposition, die auch die Geschichten um die Gerber-Nachfolge nachträglich zu skizzieren vermag: Welt gibt es immer nur als Wille und Vorstellung.